Deutschlands Wirtschaft: Was Unternehmer von EU und Merz fordern

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Die deutsche Wirtschaft ächzt unter der Bürokratielast. Unternehmer fordern von der EU ein weiteres Einlenken und von Kanzler Merz eine lautere deutsche Stimme in Brüssel. Bei keinem Thema herrscht so große Einigkeit: Die Unternehmen fordern es, die Opposition will es, und auch die Regierung beschwört es immer wieder in Reden. Und dennoch scheint der Weg zum Bürokratieabbau lang und schwer. Das liegt auch daran, dass zwar alle grundsätzlich weniger Papierstau und Dokumentationspflichten richtig finden, doch bei der konkreten Umsetzung prallen dann meist verschiedene Interessen und unterschiedliche Zuständigkeiten von Kommune bis EU aufeinander. Das führt zu kuriosen Auswüchsen, wie Unternehmer t-online berichten. EU beschließt Bürokratieabbau Dass es so nicht weitergehen kann, ist auch der EU-Kommission bewusst. Im Mai verabschiedete das Parlament den sogenannten Omnibus IV. Unter einer Omnibus-Verordnung versteht die EU Rechtsakte, die mehrere Verordnungen oder Richtlinien gleichzeitig ändern. Das aktuelle Paket umfasst unter anderem eine Aufweichung des Lieferkettengesetzes, weniger Nachhaltigkeitsberichte und weniger bürokratischen Aufwand für die Einfuhr energieintensiv erzeugter Güter wie Stahl oder Dünger. Denn es soll ein Ausgleichsmechanismus geschaffen werden, der hiesige Unternehmen vor dem Import von günstigen energieintensiven Gütern schützt, für die im Herkunftsland weniger strikte Klimavorgaben gelten. Bisher gelten für einen solchen "CO2-Zoll" umfangreiche Dokumentationspflichten – diese sollen künftig nur noch für Großimporteure greifen. Die Mitgliedstaaten müssen der Änderung noch zustimmen. Vollständig in Kraft treten soll die Regelung im kommenden Jahr. Der Wirtschaftsrat der CDU hat das Paket zum Anlass genommen, noch einmal genau hinzusehen, wie es denn um die tatsächliche Bürokratiebelastung seiner Mitgliedsunternehmen steht. Generalsekretär Wolfgang Steiger sagt t-online: "Kleine und mittlere Unternehmen spüren die regulatorischen Lasten besonders stark. Bürokratieabbau ist kein Randthema, sondern eine zentrale Voraussetzung für einen starken Wirtschaftsstandort Europa." Der Vorstoß der Kommission sende ein klares Signal, aber nun sei es entscheidend, dass es keine einmalige Initiative bleibe. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) lobt den Vorstoß und dringt darauf, die Zeit für substanzielle Veränderungen zu nutzen. Im EU-Parlament selbst gab es ebenfalls Lob aus anderen Parteien. Svenja Hahn von der FDP sagte: "Gut, dass die Kommission das Lieferkettengesetz entschlackt, es bleibt aber besser, sie würde es zurückziehen." Lange Verbesserungsliste Doch es sind längst nicht alle Belastungen für die Wirtschaft adressiert, findet der Wirtschaftsrat. Viele sollen sogar erst in den kommenden Jahren in Kraft treten. Dafür hat der Verband aber direkt einige Vorschläge, denn die Verbesserungsliste der Unternehmen ist lang. Eine entsprechende Fallsammlung des Wirtschaftsrates, die t-online vorliegt, umfasst 18 Seiten. Darin aufgelistet sind ganz unterschiedliche Anliegen: So fordern Unternehmer etwa, die Kennzeichenpflicht für den grenzüberschreitenden Transport von Gütern zu überarbeiten. Im Status quo würden ohnehin oft nur Platzhalternummern eingetragen, da Monate vor der Lieferung die Transportfahrzeuge nicht feststünden. Mehrfach tauchen Verbesserungsvorschläge für Regelungen zu Cybersicherheit und Datenschutz auf – die Unternehmer beklagen einen "unverhältnismäßigen Aufwand". Was das in der Praxis bedeutet, erläutert Haiko Schulz, Direktor und Geschäftsführer am Filk Freiberg Institute. Dabei handelt es sich um eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und ein Prüflabor, das vor allem auf Untersuchungen von Oberflächen spezialisiert ist und im Auftrag von Unternehmen entsprechende Tests und Zertifizierungen vornimmt. Ihm fallen gleich drei Verordnungen ein, die sein Institut belasten. "Bei der Entwaldungsverordnung befürchten wir einen bürokratischen Aufwand, der unsere wirtschaftlichen Erträge aus der Herstellung von Leder für Restaurierarbeiten an Kulturgütern weit übersteigt", führt er im Gespräch mit t-online aus. Die Entwaldungsverordnung der EU sieht vor, dass Rohstoffe wie Kaffee, Kakao, Palmöl, Soja, Rindfleisch, Gummi und Holz nicht von Flächen stammen, die nach 2020 entwaldet wurden. Für verarbeitete, importierte Produkte hingegen gilt die Regelung nicht in gleichem Maße. Eine Ungleichbehandlung, die laut Schulz einen Wettbewerbsnachteil bedeuten könnte. "Da müssen wir ernsthaft überlegen, ob wir das künftig nicht sein lassen", sagt er. Allerdings stellen die Lederarbeiten einen eher kleinen Anteil der Institutsarbeit dar. Deutlich regelmäßiger ist Schulz mit Datenschutzfragen konfrontiert. "Durch Regelungen wie die DSGVO entstehen Bürokratiekosten, die wir als Forschungseinrichtung nicht über Projektförderung decken können", erklärt er. Da das Institut als gemeinnützige Gemeinschaft mit beschränkter Haftung organisiert ist, stellt das eine Herausforderung dar. In eine ähnliche Richtung geht Schulz' Kritik an der Gesetzgebung zur Cybersicherheit, der sogenannten Nis-2-Richtlinie. Diese legt fest, dass vor allem Unternehmen der kritischen Infrastruktur besondere Maßgaben zur Absicherung vor Hackern erfüllen müssen. Direkt und indirekt betrifft dies aber auch kleine und mittlere Unternehmen entlang der Lieferkette und Verwaltungseinrichtungen. "Da entstehen hohe Kosten für Zertifizierung und bauliche Maßnahmen", fürchtet Schulz auch für sein Haus. In Summe kommt er zu dem Schluss: "Von 140 Mitarbeitern ist künftig einer nur mit Dokumentationspflichten für die drei genannten Gesetze beschäftigt." "Das Problem kommt nicht nur aus der Politik" Trotz allem will Schulz nicht die einzelnen Gesetze aussetzen oder zurückdrehen. "Bei all diesen Gesetzen gilt: Der Ansatz ist vollkommen richtig, doch die Art der Umsetzung führt zu einer Belastung und Benachteiligung der heimischen mittelständischen Industrie", so der Institutschef. "Hinzu kommt: Oft ist nicht die einzelne Dokumentation die Herausforderung, sondern die schiere Menge." Dabei seien auch die Unternehmen selbst gefragt. "Das Problem kommt nicht nur aus der Politik, sondern hat sich mittlerweile vor allem bei großen Industrieunternehmen verselbstständigt, die sich bei Ihren Lieferanten entlang der Lieferkette absichern wollen und müssen." Adressatin der Forderungen aus Wirtschaft und Verbänden ist zunächst die EU. Doch es geht damit auch ein klarer Wunsch an die Bundesregierung einher, der in den vergangenen Monaten immer lauter geäußert worden ist: Deutschland soll in Europa wieder sichtbarer werden und klarer Position beziehen. "Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung sich auch in Brüssel für tatsächlichen Bürokratieabbau einsetzt, Hoffnung habe ich aber wenig", so Schulz. "Undemokratische, intransparente und überstürzte Art und Weise" Während sich die Wirtschaftsstimmen mehren, die den EU-Vorstoß loben und darüber hinaus weitere Entlastungen fordern, sind nicht alle einverstanden mit dem Richtungswechsel in Brüssel. Immerhin hatte die EU-Kommission erst in der vergangenen Wahlperiode mit dem "Green Deal" noch ein beispielloses Maßnahmenpaket vor allem für einen markanten Rückgang der Treibhausgasemissionen auf den Tisch gelegt. Acht Organisationen haben gemeinsam Beschwerde gegen die Europäische Kommission wegen Plänen zur Abschwächung von mehreren EU-Gesetzen eingelegt. Die NGOs verurteilen bei der Europäischen Bürgerbeauftragten die "undemokratische, intransparente und überstürzte Art und Weise", in der die Europäische Kommission die Lockerungen entwickelt habe, wie sie mitteilten. Darüber hinaus trage die "sogenannte Vereinfachung" nicht zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bei, schreiben sie. Starke Nachhaltigkeitsgesetze seien der Schlüssel zum Wettbewerbsvorteil der EU auf einem globalen Markt, auf dem Verbraucher und Investoren zunehmend verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln fordern. Die Beschwerde wurde von der European Coalition for Corporate Justice, ClientEarth, Notre Affaire À Tous, Clean Clothes Campaign, Global Witness, Transport and Environment, Anti-Slavery International und Friends of the Earth Europe eingereicht. Deutliche Kritik äußerte auch Armin Paasch vom katholischen Hilfswerk Misereor. Mit ihrem Vorschlag "legt die Kommission die Kettensäge an die Lieferkettenrichtlinie, noch bevor sie zur Anwendung kommt". Betroffene etwa von Menschenrechtsverletzungen hätten keine Chance mehr, über Zivilgerichte Schadenersatz und Wiedergutmachung zu erlangen. Der SPD-Europaabgeordnete René Repasi sagte: "Ohne wirkungsvolle Durchsetzungsmechanismen, wie die zivilrechtliche Haftung, werden Handlungspflichten wirkungslos." Ob es tatsächlich zu Entlastungen für die Wirtschaft kommt oder sich die Kritiker der Initiative durchsetzen können, wird jetzt in den EU-Mitgliedsstaaten entschieden. Wenn sie nicht zustimmen, können sie nicht umgesetzt werden. Der Druck auf den selbst erklärten Wirtschaftskanzler Merz dürfte sich mit dem steigenden Leidensdruck der Wirtschaft nur erhöhen.
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