Deutschland kämpft noch immer mit der Digitalisierung – für einige ist es zu viel, für andere noch immer viel zu wenig. An dieser Kluft ist auch die Politik schuld. Am Wochenende saß ich viel in Zügen. Die größte Überraschung zuerst: Sie waren pünktlich, zumindest nach den Maßstäben der Deutschen Bahn. Auf dem Rückweg saß ich an einem Vierertisch; mir gegenüber eine Frau, schätzungsweise Mitte bis Ende 30. Neben ihr ihre Tochter, frisch eingeschult und während der Fahrt eifrig damit beschäftigt, sich die für sie neue Welt der Buchstaben zu erschließen. Es war sehr niedlich, das mit anzusehen. Als wir kontrolliert wurden, zog die Mutter zwei Tickets aus ihrer Tasche. Ich zog gar nichts, sondern nickte, als die Zugbegleiterin murmelnd feststellte, dass ich schon via App eingecheckt hatte. Der kleine Schulneuling guckte seine Mutter interessiert an, fragte, warum ich denn keinen Fahrschein dabeihätte und ob ich jetzt aussteigen müsste, und wurde von seiner Mutter peinlich berührt angewiesen, leise zu sein. Mir ist nicht ganz klar, was genau der Frau unangenehm war: dass ihr Kind in meinem Beisein über mich sprach statt mit mir. Oder dass sie neben mir mit ihrem Papierreiseinstrument womöglich vorsintflutlich wirken könne. Oder aber, dass sie die Frage ihrer Tochter nicht würde beantworten können. Im frühen Grundschulalter sind diese kleinen Leute ja glücklicherweise noch der Ansicht, wir Eltern wüssten alles. Wenn die wüssten! "Das Internet ist für uns alle Neuland" Die Frau hätte sich keine Sorgen machen müssen. Zumindest nicht meinetwegen. Das Benehmen war ja vollkommen altersangemessen. Also das ihrer Tochter. Und dass sie, die Erwachsene, digital abgehängt ist, kann ich verstehen. Warum sollen sich Menschen in einer Welt – oder konkreter: in einem Land – anstrengen, eine Digitalisierung mitzumachen, deren Leugnung die Politik ja mit vereinten Kräften zur Folklore werden ließ? Über viele Jahre wurde von der Politik parteiübergreifend der Eindruck vermittelt, dieses Interweb, das sei was für Nerds, Pornosüchtige, Teenies, ADHSler und Proleten. Auf diesen gemeinsamen Nenner konnte man sich parteiübergreifend auch dann noch zurückziehen, als man das eigentlich schon längst nicht mehr konnte. Viel zitiert ist der Satz "Das Internet ist für uns alle Neuland" von Angela Merkel aus dem Jahr 2013. Da hatten es viele aber schon besiedelt, weshalb die Kanzlerin Kritik für ihre Aussage erntete. Was sie aber nicht daran hinderte, Jahre später diese bisher eher unentdeckte Blüte der aktiven Verleugnung hinterherzuschieben: "Wir befinden uns alle in einer Sphäre, in der wir uns noch nicht so gut auskennen. Ich habe früher 'Neuland' gesagt, das brachte mir einen großen Shitstorm ein. Jedenfalls ist es in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain." Dieses Zitat stammt vom Digitalgipfel 2018. Leider hatte sie damit ja recht. Wir erinnern uns an die Gesundheitsämter, deren ausgesprochen analoge und de facto nicht vorhandene Vernetzung sich in der Pandemie blamabel offenbarte. An Waffeleisen angeschlossene Faxgeräte – ungefähr so stellte sich der normale Bürger irgendwann die digitale Ausstattung dieser so wichtigen Behörden vor. Ich würde mich sehr wundern, wenn dieser Missstand inzwischen beseitigt wäre. Dann, auch da möchte ich Angela Merkel zitieren, wäre das nicht mehr mein Deutschland. Immerhin hat Deutschland jetzt einen Digitalminister Laut einer Bitkom-Umfrage von 2023 sind 72 Prozent der deutschen Wahlberechtigten der Meinung, dass Politiker zu wenig Ahnung von Digitalisierung haben. 43 Prozent zweifeln daran, dass die Politik die Digitalisierung aktiv gestalten kann. Karsten Wildberger ist nun der erste Digitalminister Deutschlands und damit erstmal per se ein Symbol dafür, dass man endlich verstanden hat. Ok, formulieren wir es realistisch: verstanden haben könnte. Noch ist es zu früh dafür, genau zu sagen, was man verstanden hat: dass es jetzt wirklich allerhöchste Eisenbahn ist, oder aber, dass man jetzt wenigstens nach außen hin so tun muss, als würde man dem Thema Digitalisierung allerhöchste Priorität einräumen. Wir hoffen das Beste und drücken Wildberger, der sehr entschlossen und manchmal fast schon erschüttert davon zu sein scheint, wohin die Verpenntheit der Politik uns auch als Demokratie gebracht hat. Bis dahin würde ich allen ebenso fest Entschlossenen raten, mal ein bisschen gnädiger zu sein mit denen, die nicht der stinkende Kopf des analogen Fisches sind. Mit den normalen Leuten, zum Beispiel mit dem Sohn, der sich vor ein paar Tagen auf der Plattform Threads (kennen Sie?) aufregte, weil es die Bahncard nur noch digital gibt. Er wollte die Bahn verklagen (wollen wir das nicht alle ständig?), denn seine Mutter komme damit nicht klar. Der Mann erntete große Häme für seinen Post. Ich finde, die verdient er nicht. Er scheint ein guter Sohn zu sein. Nun muss Vater Staat endlich in die Gänge kommen. Indem er ein Mindset und die Rahmenbedingungen schafft, die alles Digitale nicht mehr fremd, mit Angst behaftet und verzichtbar erscheinen lassen. Dann klappt’s auch mit der App.