Einzelhandel in Brandenburg: Geschäfte kämpfen ums Überleben

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Der Einzelhandel kommt nicht aus der Krise – jährlich schließen tausende Geschäfte. Wie schwer es ist, einen Laden am Laufen zu halten, zeigt ein Besuch in Brandenburg an der Havel. Bei Jonalee am altstädtischen Markt in Brandenburg an der Havel ist viel los an diesem Dienstagvormittag im Juli. Eine Mutter hievt ihr Baby im Kinderwagen über zwei Stufen in den Laden und schaut sich um. Der kleine Verkaufsraum ist sonnendurchflutet. Zu kaufen gibt es unter anderem Holzspielzeug, Wickelunterlagen und bunte XXL-Bettschlangen zum Preis von 89 Euro. Doch nicht mehr lange, denn Jonalee muss schließen. Kathleen Kollosche hat das Geschäft erst im November 2024 eröffnet – jetzt wickelt sie es schon wieder ab. "Der Laden ist die letzte Woche auf und jetzt kommen noch viele Leute, um ein Schnäppchen zu schlagen", erklärt sie den Andrang. Wenn sie zuschließt, gibt es kein einziges Geschäft für Babyausstattung mehr in Brandenburg an der Havel. Zum 100. Firmenjubiläum : Deutscher Weltmarktführer meldet Insolvenz an Umsatzschwund : Gastronomie erlebt größten Einbruch seit Corona Tausende Geschäfte müssen schließen Jonalee ist eins von voraussichtlich 4.500 Einzelhandelsgeschäften, die in diesem Jahr für immer ihre Türen zusperren werden. Die Zahl hat der Handelsverband Deutschland (HDE) prognostiziert. Zwar schlossen im Coronajahr 2021 noch mehr als doppelt so viele Geschäfte (11.500). Doch der Abwärtstrend setzt sich fort. Bundesweit gibt es noch gut 300.000 Geschäfte, das sind knapp 20 Prozent weniger als vor zehn Jahren. Der größte Teil der Schließungen entfällt dem HDE zufolge auf kleinere Fachhändler – auf Boutiquen, Parfümerien und Schmuckläden. Viele von ihnen spürten die wirtschaftliche Flaute der letzten Jahre und die schwindende Kaufkraft als erste. Auch steigende Mieten und Energiepreise machten ihnen zu schaffen. Hinzu kommt, dass sich das Kaufverhalten der Menschen in den vergangenen Jahren stark verändert hat: Viele bestellen lieber im Netz, als im Laden im Stadtzentrum einzukaufen. Für die Innenstädte hat das Ladensterben weitreichende Folgen: Sie ziehen weniger Menschen an, werden unattraktiver, eine Abwärtspirale droht. Auch in Brandenburg an der Havel mussten zuletzt viele Läden schließen. Vor Jonalee kam das Aus für den Motorradbedarfsladen 1:33 und auch das Computergeschäft Kavoja Systems ist inzwischen Geschichte. Bei einem Rundgang über das Kopfsteinpflaster der mittelalterlichen Altstadt bis in die Neustadt säumen viele leere Schaufenster den Weg. Besonders schwierig ist die Lage in der 80.000-Einwohner-Stadt auch deshalb, weil die Kaufkraft unter dem bundesrepublikanischen Durchschnitt liegt und sich somit Menschen vor Ort bei steigenden Preisen weniger leisten können. Zudem kommen weitaus weniger Besucher in die Stadt als etwa in den nahegelegenen Touristenmagnet Potsdam . Daraus folgt für die Brandenburger Innenstadt eine gefährlich dünne Kundenfrequenz. Zu spüren bekommt das nicht nur der Fachhandel – auch gastronomische Betriebe müssen schließen. Das Café Melange ist dicht, der Italiener Toto in Toplage an der Jahrtausendbrücke ebenfalls und womöglich trifft es bald auch den bekanntesten Kult-Imbiss der Stadt. Deutsche Küche in der grünen Kachel Das "Bistro & Café Antje" befindet sich im Erdgeschoss eines grün gekachelten Hauses an der Hauptstraße. Zur Mittagszeit sind alle Tische besetzt. Es gibt Kaffee, Bier und deutsche Hausmannskost zu erschwinglichen Preisen – ein Jägerschnitzel mit Nudeln und Tomatensoße kostet 8,80 Euro. Hinter dem Tresen steht seit 26 Jahren Antje Höppner und nimmt Bestellungen auf. Doch immer wieder wollen Gäste über das Schild an der grünen Kachelfassade sprechen. "Ja, das Haus wird verkauft", bestätigt sie. Die Gastronomin würde gerne weitermachen, doch ob das geht, ist offen. Bislang ist kein Käufer gefunden. Wohl auch, weil das Gebäude stark sanierungsbedürftig ist. Das Haus sei Schrott, so Höppner. Doch wenn ein neuer Besitzer das Objekt mitten in der Innenstadt übernimmt und Geld investiert, muss das Bistro womöglich raus. Einen neuen Standort wolle sie nicht suchen, denn sie fange nicht noch einmal von vorn an, sagt Höppner. Eine Institution droht zu verschwinden. Ein älterer Gast sitzt an einem der Tische und wartet auf sein Schnitzel mit Spiegelei. Vor 50 Jahren habe er das erste Mal in der "grünen Kachel" gegessen, erzählt er. So nennen die Brandenburger den Imbiss, der schon zu DDR-Zeiten Currywurst verkaufte. Müsste das Bistro schließen, wäre das ein großer Verlust für die Stadt, sagt er. "Schon jetzt gibt es immer weniger deutsche Restaurants hier." Er vermutet, dass es auch daran liegt, dass viele nicht mehr hart arbeiten wollten. Steigender Leerstand in Brandenburg an der Havel Die vielen Schließungen in Brandenburg a. d. Havel beschäftigen auch Jürgen Peters. Der gebürtige Niederrheiner lebt seit Ende der 90er Jahre hier und betreibt eine Beratungsagentur. 2019 startete er ein Programm zur Belebung der historischen Altstadt. Dafür katalogisiert er fortlaufend die Entwicklung der Gewerbeimmobilien. "Der Leerstand dort ist wieder angestiegen", sagt er. Die Schließungen in der Gastronomie sind laut Peter jedoch meist nur temporär. Alte Läden würden durch neue ersetzt. "Zuletzt haben vier neue asiatische Restaurants und eine Tapas-Bar aufgemacht", sagt er. Trotzdem gehe der Einzelhandel in der Altstadt kontinuierlich zurück. "Die Post, die Sparkasse , die Fleischerei und die Apotheke haben alle vor Jahren zugemacht. Der letzte Bäcker hat nur noch an drei Tagen geöffnet und wenn der zumacht, kommt auch kein neuer mehr", so Peters. Leerstehende Gewerbeflächen würden immer häufiger zu Wohnungen umgenutzt. "Die historische Altstadt ist kein richtiger Einzelhandelsstandort mehr", sagt der 59-Jährige. Druck durch den Online-Handel Eine allgegenwärtige Herausforderung für Geschäftstreibende ist der Online-Handel. Sein Anteil am gesamten Einzelhandelsvolumen ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen und liegt inzwischen bei 13,4 Prozent. Doch längst haben auch stationäre Händler erkannt, dass ihnen das Internet Chancen bietet. Laut HDE-Sprecher Stefan Hertel kann die Verbindung aus Online-Handel und stationärem Geschäft sogar der "Königsweg" sein und Betreibern das Überleben sichern. Doch im Internet ist vieles anders als stationär. Online sind die Margen oft geringer, der Preisdruck größer und die Logistik sowie insbesondere Retouren erschweren das Geschäft, erklärt der HDE-Sprecher. Der Babyausstattungsladen Jonalee ist ein Beispiel dafür, wie eine Verknüpfung auch scheitern kann. Analyse eines Scheiterns An einem der letzten Öffnungstage strahlt die Sonne in die bodentiefen Fenster auf die Auslage von Jonalee. "Ab September habe ich dann einen neuen Job", sagt Kathleen Kollosche. Die Mutter von zwei Kindern wird bald wieder als Erzieherin in einer Kita arbeiten. Die 36-Jährige hatte schon länger Zeit, sich auf das Ende einzustellen. Schon im März habe sie gewusst, dass sie wohl schließen werde. "Ich habe es von mir weggeschoben, war in dieser Zeit sehr nah am Wasser gebaut", sagt sie. Jonalee ist mehr für sie als nur ein paar Monate altes Ladengeschäft. Sie verkauft schon seit 2018 Babyausstattung unter der Marke. "Ich habe da viel Liebe und Zeit reingesteckt, aber seit fünf Jahren ist es ein Kampf ums Überleben." Als Kollosche anfing, konnte sie noch gar nicht nähen. Nach der Geburt ihres Sohnes kaufte sie sich eine günstige Nähmaschine und legte einfach los. Sie versuchte sich an einer Bettschlange, die Babys Sicherheit und Geborgenheit bieten soll – und verkaufte ihr erstes Produkt. Schnell entwickelte sich daraus ein gut laufendes Geschäft: "Es wurde wie verrückt bestellt", erinnert sie sich. Sie stellte sechs Mitarbeiter ein, mietete eine kleine Halle an und leitete plötzlich eine Textilfabrik. Doch auf das rasche Wachstum folgte ein zäher Niedergang. "2019 hatten wir unser Spitzenjahr. Im nächsten Jahr verkauften wir schon weniger. 2021 kam dann der Einbruch“, sagt Kollosche. Ihre selbstgenähte Babyausstattung war anfangs noch ein Nischenprodukt im Netz, "doch während Corona fingen viele Leute an, selbst zu nähen und verkauften ihre Stücke auch über die Plattform Instagram. Das aber zu viel günstigeren Preisen", sagt sie. Ihre Preise hatte Kollosche eher nach Gefühl festgelegt: "Ich bin ein Bauchmensch und hatte kaufmännisch keine Ahnung", sagt die gelernte Erzieherin. Erst als die Verkäufe stark zurückgingen, wurde ihr bewusst, dass sie falsch kalkuliert hatte. Bei vielen ihrer Produkte machte sie keinen Gewinn, bei einigen verlor sie sogar Geld. Erst zahlte sie sich kein Gehalt mehr aus, dann "musste ich nach und nach alle meine Mitarbeiter entlassen und seit 2023 bin ich wieder ganz allein", sagt sie. Es sei jedoch ein langgehegter Traum gewesen, einen eigenen Laden zu eröffnen. Sie wollte ihre selbstgenähten Produkte präsentieren, anstatt sie nur zu verschicken. Die Lage ihres Ladens in der Altstadt sei jedoch eine Herausforderung gewesen; "wunderschön, aber keine Laufkundschaft", erklärt Kollosche. Sie stellte ihre Nähmaschine ins Hinterzimmer, um bei Leerlauf einfach weiter Produkte herstellen zu können. Doch der schon jahrelang rückläufige Umsatz ihres Onlineshops wurde nach der Eröffnung nur noch schlechter. "Das war auch selbst verursacht, weil ich weniger bei Instagram geteilt habe", reflektiert sie. Nach dem Aus von Jonalee bleibe ihr nun nur noch die Erinnerung an eine bereichernde Zeit, in der sie viel gelernt habe. Ein neues Geschäft will sie so schnell nicht wieder eröffnen. Einzelhandel als Erlebnis Trotz der Krise gibt es jedoch auch viele Geschäfte, die gut funktionieren und profitabel sind. Dabei sei die Inszenierung entscheidend, erklärt Handelsverband-Sprecher Hertel. Der Einkauf müsse für die Kunden zum Erlebnis werden, das sie nur vor Ort bekommen können. Modemitliebe ist ein Geschäft in Brandenburg, wo das gelingt. Nur wenige Fußminuten von Jonalee entfernt hat Inhaberin Zineb Kim Siebert einen kleinen Verkaufsraum wie ihr persönliches Ankleidezimmer angerichtet. Sie verkauft dort Schmuck und italienische Frauenkleidung in Einheitsgrößen. Siebert ist mit ihrem Geschäft vor anderthalb Jahren "zufällig in die Altstadt gerutscht", wie sie sagt. Der dünnen Laufkundschaft, die es Kollosche im Jonalee so schwer gemacht hat, begegnet sie mit begrenzten Öffnungszeiten von 10 bis 13 Uhr. Doch auch abseits der Öffnungszeiten steckt die 29-Jährige "richtig viel Arbeit" in ihren Laden. Sie beschafft die Klamotten selbst, trägt sie in dem kleinen Verkaufsraum auf und teilt ihre Outfits bei Instagram. Ihre Kundinnen kommen dann gezielt in das Geschäft, um sie anzuprobieren und abzuholen. Die Inhaberin kennt die meisten ihrer Kundinnen persönlich und die Atmosphäre ist familiär. Regelmäßig lädt Siebert zu Veranstaltungen mit Sekt und Snacks in ihren Laden. "Wenn es voll ist, dann shoppen alle zusammen", erzählt sie begeistert von dem Einkaufserlebnis bei Modemitliebe.
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