Frauke Brosius-Gersdorf: Petition übertrifft rechte Kampagne

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Die Diskussion um Frauke Brosius-Gersdorf geht weiter, Petitionen bringen Hunderttausende Unterschriften. Dabei gibt es eine gute Nachricht. Es gibt Menschen, denen ist kaum ein Preis dafür zu hoch, in der Öffentlichkeit zu stehen. Dafür liefert Social Media Tag für Tag gigantische Datenmengen an Beweisen: Eltern, die ihre Kinder posten, ohne mit der Wimper zu zucken. Jugendliche, die bis an den Rand des Todes – und in tragischen Fällen darüber hinaus – sogenannte Mutproben absolvieren. Influencerinnen, die schnell noch Smartphonekamera und Licht professionell justieren, bevor sie wegen etwas anfangen zu weinen. Oder umgekehrt. Nach dem Wenigen, was wir über Frauke Brosius-Gersdorf wissen, gehört sie nicht zu dieser Sorte Mensch. Sollte sie aber bis vor wenigen Wochen doch dazugehört haben, können wir von zwei Dingen ausgehen: Erstens war sie vorher nicht sehr erfolgreich mit ihrem Bemühen, von einer breiten Masse wahrgenommen zu werden. Zweitens wird sie inzwischen festgestellt haben: Das klingt in der Theorie oft verheißungsvoller, als es in der Praxis dann ist. Drohungen, Schmähungen, Falschbehauptungen – die vergangenen Wochen haben mal wieder gezeigt, wie aktiv der Mob vom Sofa aus werden kann. Und wie allzu gern ihn manche Portale anheizen. Auch Politiker und Politikerinnen bürgerlicher Parteien machen gern dabei mit. Insofern dürfte die Verfassungsrechtlerin aktuell vorsichtig aufatmen: Ganz verschwunden ist das Drama um ihre geplatzte Wahl zur Bundesverfassungsrichterin aus Schlagzeilen und sozialen Netzwerken zwar nicht – aber es beherrscht sie auch nicht mehr. Viele in der CDU/CSU, aber auch in der SPD , dürften darüber erleichtert sein. Das Interesse daran, das für die Koalition (freundlich formuliert) äußerst schwierige Thema weiter öffentlich breitzutreten, statt erst mal intern zu besprechen, haben momentan nur solche, die sich ein anderes Regierungsbündnis wünschen. Plötzlich sind alle Verfassungsjuristen Nun ist vorerst Sommerpause, außerdem sind andere Themen in den Vordergrund gerückt. Im Hintergrund aber wird natürlich weiter gewerkelt. Denn auch in der Sommerpause arbeiten Politiker, allen Behauptungen am realen und virtuellen Stammtisch zum Trotz. Und auch die Zivilgesellschaft ist nicht untätig. Auch nicht in Sachen Brosius-Gersdorf . "Petition für Brosius‑Gersdorf knackt 165.000 Unterschriften – und übertrumpft rechte Fake News-Kampagne deutlich", jubeln jetzt die Verantwortlichen hinter der Petitionsplattform innn.it in einer Pressemitteilung. Seit knapp einer Woche versammeln sich dort Menschen, die Brosius-Gersdorf weiterhin am höchsten deutschen, nämlich dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, sehen wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer lautet: Weil sie sie für fähig halten. Wobei sich die tatsächliche Expertise für Verfassungsrecht im breiten Volk womöglich nicht ganz auf dem Niveau bewegt, das die (wieder freundlich formuliert) angeregte Diskussion in den sozialen Netzwerken in den vergangenen Wochen suggeriert. 83 Millionen Verfassungsjuristen leben in Deutschland – diesen Eindruck mussten Nicht-Eingeweihte zumindest bekommen, wenn sie sich grob über X, Instagram und andere Plattformen informierten. Da ging mal wieder Meinung vor Ahnung. Halbwahrheiten und Lügen Was wahrscheinlich noch stärker hinter dem Schub für die Unterschriftensammlung steckt: Die Leute wollen nicht, dass eine zumindest in weiten Teilen auf Halbwahrheiten bis hin zu blanken Lügen basierende Kampagne Erfolg hat. Dass bis zur Unkenntlichkeit auf Social-Media-Kachelgröße und -komplexität verkürzte Falschbehauptungen und die begleitende Schlammschlacht eine angesehene Juristin noch weiter beschädigen. Heruntergebrochen auf das Debattenniveau bedeutet das: Das Böse darf nicht siegen. Das Böse, dazu gehört demnach die in derselben Pressemeldung als "Fake News-Kampagne" bezeichnete Petition, die genau das Gegenteil fordert. Dort haben sich bislang knapp 148.000 Menschen (Stand: Mittwochmorgen) gegen Brosius-Gersdorfs Wahl ausgesprochen. Das sind nun nicht unbedingt "deutlich mehr", wie innn.it behauptet. Da muss man eine Grundeuphorie abziehen, die Aktivisten naturgemäß innewohnend und der Sache natürlich auch dienlich ist. Plus das Geklapper, das zum Handwerk namens Öffentlichkeitsarbeit gehört. Aber ja, es stimmt: Die Anti-Brosius-Gersdorf-Kampagne läuft schon länger. Die Plattform dahinter, CitizenGo, trommelt unter anderem gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und gegen Abtreibung. Eine sorgfältige, juristische Abwägung In dieses Horn bliesen argumentativ auch die Unionsparteien, als sie sich gegen Brosius-Gersdorf aufstellten: Sie setze sich für straffreie Abtreibung bis zur Geburt ein, wurde behauptet. Das stimmt nur dann, wenn man entweder böswillig verkürzen will oder aber nicht in der Lage ist, eine sorgfältige, multiperspektivische juristische Abwägung eines politisch und moralisch höchst aufgeladenen Themas als das zu erkennen, was sie ist: eine sorgfältige, multiperspektivische juristische Abwägung eines politisch und moralisch höchst aufgeladenen Themas. Hinter CitizenGo steckt Recherchen zufolge unter anderem ein Putin-naher russischer Oligarch mit Kontakten, Sie ahnen es, zur FPÖ in Österreich . Und der AfD . Auf dieser Plattform gilt Brosius-Gersdorf als "radikale Lebensfeindin". Das ist blanker, bösartiger Unsinn. Ist der Einfluss wirklich so groß? 165.000 für Brosius-Gersdorf, 148.000 gegen sie. Das sind 313.000 Unterschriften. Dopplungen, also Menschen, die sowohl die eine als auch die andere Petition gezeichnet haben, mag es wohl wenige geben. Gemessen an den sehr vielen, die sich in den vergangenen Wochen in die Debatte eingebracht haben, sind das nicht viele. Für Petitionsverhältnisse aber ist das schon eine recht ansehnliche Zahl. Wie groß der Einfluss auf die letztendliche Entscheidungsfindung haben wird, sei mal dahingestellt. Aber es zeigt: Es tut sich was. Auch bei denen, denen immer mehr vorgeworfen wird, zu untätig, zu still, zu defensiv zu sein: Bei denen, die kein Interesse haben, sich von rechten bis rechtsradikalen Kampagnen die Welt schlechter machen zu lassen. Das ist doch eine gute Nachricht.
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