Ohne Vorwarnung verändert sich der Inhalt von E-Mails – und mitten in journalistischen Texten tauchen absurde Fehler auf: t-online deckt auf, dass Google ein Problem hat – und vielen Menschen damit Probleme macht. "Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser": Der "Tagesanbruch"-Newsletter von t-online-Chefredakteur Florian Harms begann wie immer. Aber schon der folgende Satz gab vielen Lesern Rätsel auf: "Dieser Tage wird viel gegeist", lasen sie dort. Ein Geist schien tatsächlich am Werk zu sein. Denn Harms schrieb im Originaltext, der an die Abonnenten verschickt wurde und auf t-online auch als Web-Artikel zu lesen ist, "gereist". Viele Newsletter-Abonnenten sahen in ihrem E-Mail-Postfach jedoch eine veränderte, unsinnige Variante. Die Verfälschung war kein redaktioneller Patzer, sondern die Folge eines gravierenden und weltweiten Fehlers bei Google. Durch die Hinweise von t-online ist er aufgefallen. Von dem Problem betroffen sind nicht nur Medien oder auch Unternehmen, deren Newsletter den Empfängern verfälscht angezeigt wurden. Auch private Nachrichten der mehr als 1,8 Milliarden Nutzer des E-Mail-Anbieters Gmail waren davor in den vergangenen Wochen nicht sicher. Der Technologie-Riese aus dem kalifornischen Mountain View hat deshalb damit begonnen, eine verbesserte Version seines E-Mail-Dienstes Gmail auszurollen. Potenziell kann es jeden treffen, der nicht Englisch als seine voreingestellte Sprache nutzt; das Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. Google spricht dennoch von einer "sehr kleinen Zahl" von betroffenen Gmail-Nutzern. Wie ein Restaurantkritiker auf Abwegen Um die Dimension des Fehlers aufzuzeigen und zu verstehen, hilft es, einen Vergleich zu bemühen: Man stelle sich einen Restaurantkritiker vor, der beim Besuch einer Gaststätte Backhendl mit Kartoffelsalat serviert bekommt – klassisch, klar erkennbar. Im Lokal selbst sieht er Bambusstühle, die Musikanlage einer chinesischen Marke und den Aufdruck "Made in China" auf dem Salzstreuer. Statt sich auf das Gericht zu konzentrieren, zieht der Tester falsche Schlüsse aus dem Drumherum und gibt sein Geschmackserlebnis so wieder: "Die Pekingente schmeckt ungewöhnlich." Er hat sich also durch die umgebenden Informationen, die mit dem Gericht auf seinem Teller nichts zu tun haben, in die Irre führen lassen. Genau das ist Google beim Einsatz Künstlicher Intelligenz passiert. Nur dass es hier nicht um Backhendl, sondern um E-Mail-Texte geht. Ob ein Text auf Deutsch oder in einer anderen Sprache verfasst wurde, entscheidet bei Google die KI . In den Einstellungen beim Nutzer lässt sich zudem festlegen, dass erkannte E-Mails ohne Nachfrage künftig stets automatisch übersetzt werden. Vielen Nutzern ist diese Funktion jedoch gar nicht bewusst. Auf Anfrage von t-online verweist Google darauf, dass Nutzer dieser Einstellung zugestimmt und sich aktiv für sie entschieden hätten. Betroffene Leser konnten sich daran jedoch nicht erinnern. Die automatische Erkennung der Sprache bezieht dabei nicht nur den eigentlichen Text, sondern auch umgebende Informationen ein – quasi die Salzstreuer und Möbel, um im Bild des Restaurantkritikers zu bleiben. Um zu entscheiden, in welcher Sprache ein Text verfasst ist, nutzt die Google-Software den Quellcode der jeweiligen E-Mail. Hier sind etwa Befehle hinterlegt, wie die E-Mail dargestellt werden soll. Und diese Befehle sind in der für Programmierer üblichen Sprache formuliert: Englisch. Google steckte Trump "Arsch" in den Ärmel Dieses Drumherum gewichtet Googles KI zu stark – so kommt es, dass E-Mails mit dem auf Deutsch verfassten "Tagesanbruch"-Text absurderweise nochmals ins Deutsche "übersetzt" werden. Was dann im Postfach ankommt, ist ein verstümmelter Text: schief formuliert, fehlerhaft bis grob sinnentstellt. Besonders deutlich wird das Problem an einem Text, der sich auf ein "Ass" bezog, das US-Präsident Donald Trump im Ärmel habe. Davon war in der "Tagesanbruch"-Ausgabe vom 23. Juli 2024 zu lesen – zumindest für jene Leser, denen keine von Google automatisierte Übersetzung vorgesetzt wurde. Anders in den Postfächern von Gmail-Nutzern: Dort griff der Übersetzerautomatismus ein – und verunstaltet den Ursprungstext. Das Wort "Ass" gibt es nämlich auch im Englischen, nur bedeutet es ins Deutsche übertragen "Arsch". Von diesem Körperteil im Ärmel des US-Präsidenten lasen also die betroffenen "Tagesanbruch"-Abonnenten mit Gmail-Accounts. Nach Fehlern wie diesen meldeten sich zahlreiche Leser irritiert oder empört bei der t-online-Redaktion. Viele hatten den Eindruck, die t-online-Autoren seien Dilettanten. "Es kamen in den vergangenen Monaten sogar Fragen, ob unsere Redakteure betrunken seien", berichtet Chefredakteur Florian Harms. "Für das publizistische Renommee und die Glaubwürdigkeit von seriös arbeitenden Medien sind solche Textmanipulationen verheerend." Durch Übersetzung plötzlich geduzt Doch wenn sich Leser beschweren, dann tun sie das selten mit einer ausführlichen Begründung und einem Screenshot Ihres E-Mailprogramms, der das Problem dokumentiert. Deshalb erklärte sich die Bedeutung mancher Zusendungen auch erst im Nachhinein. Schließlich fügten sich nach und nach die Puzzleteile zu einem größeren Bild zusammen: Es gibt ein grundsätzliches Problem – den "Geist", der Newsletter-Texte grob verfälscht. Und der auch durch andere E-Mails in den Postfächern dieser Nutzer spukt. Eine Leserin, die nach ihrem Hinweis auf einen Fehler mit dem t-online-Leserservice im Austausch stand, duzte den Mitarbeiter beispielsweise unvermittelt. Ungewöhnlich war das schon – bis sich herausstellte, dass auch die Leserin sich gewundert hatte. Sie war zuvor ebenfalls unvermittelt in einer Antwort der Redaktion geduzt worden. Die Aufklärung: Google hatte in der E-Mail das förmliche "Sie" kurzerhand in ein "Du" übersetzt – also war auch sie zum Du gewechselt. Bei den IT-Spezialisten des t-online-Mutterkonzerns Ströer brannten zu dieser Zeit bereits die Warnleuchten. Auch ein Cyberangriff staatlicher Akteure auf t-online-Nutzer, technische Dienstleister beim E-Mail-Versand oder die IT schien möglich. Anlass zu solchen Befürchtungen lieferten einige krasse Fehlübersetzungen, die auch einen politischen Hintergrund möglich erscheinen ließen. So wurden im "Tagesanbruch"-Newsletter aus "ukrainischen Stellungen" für Gmail-Nutzer plötzlich "amerikanische Stellungen". Eine gezielte Manipulation im Sinne des Kremls? An anderer Stelle machte die automatische Übersetzung die "isrealische Armee" zur "russischen". Manche Leser, mit denen t-online zur Ursachenfindung in Austausch stand, zeigten sich tief verunsichert: "Das Ganze erschreckt mich extrem", schrieb ein Pensionär aus Franken am 24. Mai, als ihm bewusst wurde, dass er nicht die Originalmails vor sich hatte. Als Konsequenz richtete er sich eine E-Mail-Adresse bei einem anderen Anbieter ein und bat, nur noch über diese mit ihm zu kommunizieren. Überdies war dieser "Tagesanbruch"-Leser bereit, seine Geräte zur Analyse des Problems zur Verfügung zu stellen. Die Nachforschungen hatten da aber schon ergeben: Es konnte eigentlich kaum an den PCs oder Smartphones der Nutzer liegen. Denn die Probleme traten auf besonders gesicherten Firmencomputern mit Windows-Betriebssystem ebenso auf wie auf Tablets und Smartphones unterschiedlicher Hersteller. Aber eben immer bei Google-Nutzern. IT-Spezialisten von Google wiegelten ab Ein am 22. Mai 2025 von Ströer beauftragtes IT-Sicherheitsunternehmen, das auf IT-Forensik spezialisiert ist, reagierte sofort, wiegelte dann aber schnell ab: Das Problem liege aufseiten Googles, meldeten die Experten. Man werde es mit den internen Entwicklungsteams bei Google aufklären und die Analyse nicht in Rechnung stellen. Pikant dabei: Das Unternehmen gehört selbst zu Google. Es liegt nahe, dass der Tech-Riese kein Interesse an einer externen Begutachtung hatte. Wie Google dann mit dem Problem umging, ärgerte Chefredakteur Harms. Die IT-Spezialisten im Haus berichteten ihm, dass es seitens des US-Unternehmens lange keine Offenheit gegeben habe, das gravierende Problem zu definieren, keine glaubwürdigen Zusagen, dass es wirklich ernst genommen und abgestellt werde. Google: Haben seit Anfang Juni am Problem gearbeitet Google versichert nun, dass unmittelbar an der Behebung gearbeitet worden sei, als das entsprechende Team vom Problem erfahren habe. Anfang Juni seien erste Korrekturen umgesetzt worden. Tatsächlich traten einige der Fehler plötzlich nicht mehr auf. In den Gmail-Postfächern, die Lesern fälschlicherweise "russische Truppen" vorgesetzt hatten, nahmen die Soldaten wieder die israelische Staatsangehörigkeit an. Dieselbe E-Mail wird dort nun textlich korrekt angezeigt. Am 6. Juni meldete sich Google bei der IT-Abteilung von Ströer und informierte über das Ergebnis einer "Root Cause Analysis (RCA)", einer Fehler-Ursachen-Analyse: Die Entwickler hätten das Sprachmodell "aktualisiert", um einige Übersetzungsfehler zu beheben. Googles Beteuerung war das eine, die Realität blieb jedoch weiterhin ärgerlich. Zwar waren einzelne an Google gemeldete gravierende Falschübersetzungen nun abgestellt, dafür tauchten andere Fehler in "Tagesanbruch"-Ausgaben auf. Offenbar hatten die Google-Entwickler nur an Symptomen gearbeitet. Der Ansprechpartner bei dem US-Konzern erhielt deshalb noch am selben Tag, dem 6. Juni, eine kritische Rückmeldung von Ströer: "Es sieht so aus, als hätte das Entwicklerteam lediglich ein Pflaster auf die Wunde geklebt, ohne die eigentliche Ursache zu beheben." Auf eine weitere Nachfrage folgte schließlich Googles Ankündigung, ein gemeinsames Gespräch anzusetzen. Deutsche E-Mailanbieter verzichten auf Funktion Dieses kam am 30. Juni zustande: Hochrangige Google-Vertreter erklärten dabei, dass eine Lösung gefunden und auch programmiert worden sei. Die Apps, Webseiten und Programme zur Nutzung von Gmail bekommen demnach weltweit größere Aktualisierungen. Google bestätigte das der Redaktion. Man arbeite an weiteren Verbesserungen der Übersetzungsfunktionalität und werde sie in den kommenden Wochen einführen. Gleichzeitig prüfe Google auch, wie sichergestellt werden kann, dass die automatische Übersetzung für Nutzer klar erkennbar und nachvollziehbar ist. Bemerkenswert: Das aufgetauchte Problem stellt sich bei deutschen E-Mail-Anbietern nicht. In den Postfächern von gmx.de und web.de des deutschen Anbieters 1&1 Mail & Media Applications unterstützt KI zwar bei der Spam-Bekämpfung, der Account-Sicherheit und der automatischen Sortierung von E-Mails in Kategorien. Ein Sprecher des Unternehmens sagte zu t-online, alle KI-Features würden im Einklang mit der europäischen Datenschutz- und KI-Gesetzgebung angeboten – "und nur, wenn KI unseren über 35 Millionen Nutzerinnen und Nutzern in Deutschland einen wirklichen Mehrwert bietet". KI-Übersetzungen gibt es dort nicht. Auch bei der Deutschen Telekom, die ebenfalls einen E-Mail-Dienst betreibt, sieht man keinen Grund, "wieso man dem Nutzer vorgreifen und antizipieren sollte, dass er eine E-Mail nicht im Original möchte". Ein Sprecher sagte t-online zudem, dass automatische Erkennung und Übersetzung von E-Mails nicht eingesetzt würden und nicht geplant seien. Es gebe seitens der Nutzer kein größeres Interesse daran, wie die Marktforschung ergeben habe. Eher gehe es darum, von KI Antworten auf E-Mails formulieren zu lassen. Ganz anders Google: Der US-Konzern hatte schon 2012 die Integration der automatischen Übersetzungstechnologie in Gmail für alle seine Nutzer verkündet. 2023 meldete das Unternehmen, dass nach Jahren, in denen "unsere Nutzer E-Mails bequem in über 100 Sprachen in Gmail im Web" übersetzten, die Funktion nun auch für Apps verfügbar gemacht werde. Dabei wurden immer wieder Änderungen vorgenommen, wie Google erklärt. Manche Versionen lösten offenbar die Geisterübersetzungen aus, ohne dass Google selbst es zunächst feststellte. Größere Probleme mit automatischer Erkennung und folgenden fehlerhaften Übersetzungen waren bisher nicht bekannt. Und mit den jetzt kommenden verbesserten Gmail-Versionen soll sich die KI nicht mehr so leicht von dem englischsprachigen Code ablenken lassen, wenn sie entscheidet, in welcher Sprache ein Text verfasst ist und ob er wirklich übersetzt werden muss. Wissenschaftler: Text und Gestaltungsbefehle eng verzahnt Das ist jedoch durchaus komplex, heißt es von führenden deutschen Wissenschaftlern des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DKFI). In Saarbrücken leitet Josef van Genabith dort den Forschungsbereich Sprachtechnologie und Multilingualität und ist Lehrstuhlinhaber für übersetzungsorientierte Sprachtechnologien der Universität des Saarlandes. Diese Befehle zur Darstellung, das sogenannte Markup, seien technisch eng mit dem jeweiligen Text verzahnt, erklärt er: "Der Text ist kein separates Element, das nur aus diesen Worten besteht. Damit er in der E-Mail oder auf einer Webseite grafisch ansprechend dargestellt werden kann, braucht es an vielen Stellen Textauszeichnung." Diese nutzen in der Regel englische Codewörter und könnten die Spracherkennung durcheinandergebracht haben. Google habe mit einem großen Team hervorragender Entwickler eigentlich sehr gute Lösungen zur Unterscheidung und zur Detektion geschaffen. Dabei handele es sich in der Regel um einzelne Modelle für gezielte Anwendungsbereiche, weil sie geringeren Rechen- und Strombedarf haben als große KI-Assistenten wie ChatGPT oder Gemini. Die für sich reibungslos funktionierenden Module könnten aber im Zusammenspiel Konflikte erzeugen. "Dann kann es halluzinieren" Dass in den Postfächern von Gmail Sprache falsch detektiert und übersetzt wird, bezeichnet van Genabith als "eher ein Kuriosum" und stellt klar: "Dem nachzugehen und es abzustellen, ist aber wichtig." Google habe schließlich eine enorme Zahl von Nutzern, "und es soll ja keine Fake News erzeugen". Google selbst schließt aus, dass es bei Falschübersetzungen von Wörtern wie "Ukrainisch" oder "Israelisch" in "Amerikanisch" oder "Russisch" im Unternehmen Manipulation oder politisch motivierte Eingriffe gab: "Wir sind davon überzeugt, dass es sich um ein technisches Problem handelt." Die Wissenschaftler am DFKI teilen die Auffassung. Van Genabiths Stellvertreter Simon Ostermann: "Wenn ein Modell dazu gezwungen ist, von Deutsch nach Deutsch zu übersetzen, wozu es natürlich nicht trainiert wurde, kann es halluzinieren." Das Ersetzen von Nationalitäten – also das oben genannte Beispiel der Soldaten – könne ein statistisches Fragment sein: "Denkbar ist, dass das Wort 'russisch' in den Trainingsdaten einfach häufiger vorkommt, daher wird es als wahrscheinlicher eingesetzt." Das sei aber nur eine Vermutung. Unterm Strich bleiben ein gravierendes Problem und ein großer Vertrauensverlust, den Google E-Mail-Nutzern und dem Nachrichtenportalen t-online zugefügt hat. Bis die technischen Verbesserungen in den E-Mail-Postfächern aller Gmail-Nutzer ankommen, kann es noch Wochen dauern. Es wird also weiter "gegeist".