Mercedes-Krise: Warum die Luxus-Strategie gescheitert ist

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Was ist los bei Mercedes? Der Glanz des Sterns verblasst, die Krise nistet sich in Stuttgart-Untertürkheim ein. Das liegt nicht nur daran, dass die E-Autos keine Käufer finden. Oh Lord, won't you buy me a Mercedes-Benz … Die Älteren unter Ihnen kennen diese Songzeile: Janis Joplin, 1970, damals ein Welthit. Die Frau mit der kraftvollen Rock- und Bluesstimme widmete der deutschen Automarke eine Hymne – kein Influencer-Marketing, einfach so, aus Spaß. Mercedes, eine Marke der Popkultur. In Stuttgart hat man damals nicht auf den Song reagiert. Vielleicht, weil der Text einen ironischen, konsumkritischen Unterton hat. Wahrscheinlich aber fanden es die Daimler-Bosse ganz normal, dass sich eine junge Frau nichts sehnlicher wünscht als einen Mercedes-Benz. Die älteste Automarke der Welt genoss einen legendären Ruf, sie stand für "Made in Germany", der Stern gehörte zum Inventar der Republik. Auf einen 200 D mussten die Käufer viele Monate warten. Marke im freien Fall: Mercedes setzt jetzt alles auf diese Neuheit Auswertung: Diese Menschen fahren überdurchschnittlich häufig Mercedes Heute können sie jedes Modell direkt aus dem Showroom kaufen. Die Absatzzahlen brechen ein, der Umsatz schrumpft, der Gewinn erst recht, der Aktienkurs schwächelt. Die Elektroautos verkaufen sich schlecht, in den USA werden die Flaggschiffe EQE und EQS ab September gar nicht mehr angeboten. Einen Aufwärtstrend gibt es nur bei der Zahl der Rückrufe wegen technischer Mängel. In einer repräsentativen Studie wurde kürzlich gefragt, welchen Marken die Deutschen besonders vertrauen. Mercedes landete auf Platz 22 von 25, hinter Oral-B, Fielmann und Knorr. Das sind ernüchternde Befunde. Das Magazin "Cicero" fragt bereits, ob Stuttgart das neue Detroit wird. Die Wiege des Automobils, heute eine wohlhabende Stadt, demnächst eine Metropole der Armut und der Kriminalität, wie die heruntergekommene Motorcity in den USA? Das scheint weit hergeholt zu sein, aber im Schwäbischen macht man sich Sorgen. Wenn der Daimler hustet, wird das Land schwer krank. Die kritischen Blicke richten sich auf Ola Källenius , der seit sechs Jahren an der Spitze des Unternehmens steht. Ein gebürtiger Schwede, den es beruflich und privat nach Stuttgart verschlagen hat. 56 Jahre alt, jungenhafter Typ, sehr sympathisch. Vor zwei Jahren hat er die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, von der kleinen Zeremonie im Bürgeramt postete er voller Stolz ein selbst gemachtes Handyfoto. Ein Mensch, nicht nur ein Manager. Källenius hat zwei strategische Entscheidungen getroffen, die das Gesicht des Unternehmens prägen sollten. Im Jahr 2021 rief er die "Electric-only-Strategie" aus: Am Ende des Jahrzehnts wollte Mercedes nur noch Elektroautos bauen. Außerdem positionierte er Mercedes als Luxusmarke, er setzte ganz auf die renditestarken Topmodelle S-Klasse, G-Klasse, Maybach und AMG, alle auch in der E-Version. Das Einstiegsmodell, die A-Klasse, wurde dagegen zum Auslaufmodell. Auch die B-Klasse, der Rentner-Benz, hat keine Zukunft. Ich traf den schwedischen Schwaben einmal im Mercedes-Museum in Untertürkheim, um mit ihm über seine Pläne zu sprechen. Kein investigatives Interview, eher eine unterhaltsame Plauderei vor der Kamera. Die Ikonen der Automobilgeschichte bildeten den optischen Rahmen: der Motorwagen Nr. 1 von Carl Benz, der erste Verbrenner der Automobilgeschichte, der legendäre Silberpfeil, das Papamobil von Johannes Paul II., der "Adenauer", die Staatskarosse schlechthin. Källenius schlug einen großen Bogen von der Tradition in die Zukunft. Er sprach über Innovation und Fortschritt, die in jeder Phase der Unternehmensgeschichte den Erfolg und die Faszination der Marke ausgemacht hätten. Als die Kameras ausgeschaltet waren, fragte er mich, ob ich wirklich skeptisch gegenüber der Elektromobilität sei, er glaubte das gespürt zu haben. Ja, auch, aber vor allem war es der Luxus-Begriff, der mich zweifelnd zurückließ. Heute, vier Jahre später, wissen wir, dass beide Strategien gescheitert sind. Hinter den Ansprüchen zurück Weniger als zehn Prozent der aktuell produzierten Mercedes sind E-Modelle. Källenius hat das Ziel für 2030 von 100 auf 50 Prozent reduziert. Auch das ist kaum erreichbar. Mercedes bleibt weit hinter den eigenen Ansprüchen zurück, auch hinter anderen Herstellern: BMW erreicht bereits fast 20 Prozent Elektroanteil, Porsche sogar fast 25 Prozent. Die Sache mit dem Luxus ist aus meiner Sicht trotzdem das größere Problem. Eine Handtasche von Hermès ist ein Luxusgut, die Rolex-Uhr auch. Der ehemalige Porsche-Chef Wendelin Wiedeking antwortete auf die Frage, wer eigentlich einen 911-er brauche: niemand. Das ist Luxus. Aber doch nicht Mercedes! In meiner Jugenderinnerung hat ein Mercedes vorn einen Stern auf der Haube und hinten eine Anhängerkupplung. Der Nebenerwerbslandwirt und der Handwerker brauchten den Anhänger für ihre Arbeit. Im Sommer kutschierten sie ihren Wohnwagen nach Rimini. Luxus? Wenn Sie früher ein Taxi bestellten, kam ein Mercedes. Während der Fahrt nagelte der Diesel vor sich hin, der Kilometerzähler stand bei einer halben Million oder mehr. Eindrucksvoll. Heute gibt es die Taxi-Ausstattung ab Werk gar nicht mehr. Dabei war ein Mercedes nie nur ein Auto. Der Vorstandsvorsitzende ließ sich in der S-Klasse chauffieren, er konnte unterwegs seinen Geschäften nachgehen. Für den erfolgreichen Unternehmer aus dem Mittelstand war die Oberklasse auch ein Statussymbol. Mercedes war immer premium – und zugleich massentauglich. Der gehobene Komfort, die gehobene Qualität rechtfertigten den gehobenen Preis. Und vor allem die Zuverlässigkeit. Geld der Vorfahren? In einem alten Werbespot von 1995 wartet eine junge Frau auf ihren Mann. Als er endlich kommt, spät in der Nacht, schaut sie ihn misstrauisch an. Es tue ihm leid, sagt er kleinlaut, er habe eine Panne gehabt. "Mit deinem Mercedes?", fragt die Frau – und gibt ihm eine schallende Ohrfeige. So bringt man in 30 Sekunden eine Markenbotschaft auf den Punkt. An wen richtet sich die Luxus-Botschaft von heute? An die Kinder der Oligarchen, in China , in den Emiraten des Nahen Ostens? An die Superreichen in St. Tropez? An die goldene Generation der Erben, deren Lebensinhalt darin besteht, das Geld ihrer Vorfahren unter die Leute zu bringen? Die Luxusstrategie ist nicht die erste Strategie in der Geschichte des Unternehmens, die nicht aufgeht. Der frühere Daimler-Chef Edzard Reuter wollte einen "integrierten Technologiekonzern" schaffen – Flugzeuge und Schiffsmotoren gehörten genauso dazu wie Kühlschränke und Autos der oberen Mittelklasse. Sein Nachfolger Jürgen Schrempp kaufte in Detroit den US-Hersteller Chrysler, seine Strategie war die "Welt AG", er sprach von einer Hochzeit im Himmel. Auf Erden scheiterte er wie Reuter. Und wie Källenius. Gerade kommt der neue Mercedes CLA zu den Händlern, das neue Einstiegsmodell. "Entry Luxury" dichten die Marketingstrategen, Preis ab 53.000 Euro. Die Werber, die vor 30 Jahren den Ohrfeigen-Spot gedreht haben, sind auch wieder an Bord. Aber ihre Spots spielen in einer entrückten Kunstwelt, sie texten emotionslose Sätze über Emotion und Inspiration. Und sie reden wie IT-Nerds: "Mit dem neuen Betriebssystem MB.OS sorgt der MBUX Superscreen mit Unity 3D-Engine für ein neues digitales Fahrerlebnis." Die Betriebsanleitung meines WLAN-Routers liest sich so ähnlich. Aus dem Scheitern hat Mercedes früher immer gelernt. So wird es hoffentlich auch diesmal sein. Ich vermute, die nächste Strategie wird sich wieder auf die Wurzeln der Marke besinnen. Darauf, dass ein Auto mit dem Stern das Bedürfnis nach sicherer und komfortabler Mobilität erfüllt. Mercedes-Kunden sind keine armen Leute, aber auch keine artifiziellen Luxusgeschöpfe. Mercedes ist keine chinesische Marke. Oh Lord, wir brauchen einen Neustart. Entweder von Ola Källenius. Oder von seinem Nachfolger.
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