Die Bahn ist unzuverlässig wie nie zuvor, was vor allem an der maroden Infrastruktur im Schienennetz liegt. Was es bräuchte, um die zu sanieren – und worauf sich Reisende an Ostern einstellen müssen, erklärt Bahnchef Lutz im Interview. Seit etwas mehr als acht Jahren ist Richard Lutz Chef der Deutschen Bahn – und ziemlich genauso lange steht er in der Kritik. Kein Wunder: Die Bahn ist heute so unpünktlich wie nie, zuletzt kamen nicht einmal zwei von drei Zügen innerhalb der maximal zulässigen Verspätung von sechs Minuten an. Hauptgrund dafür: die marode Infrastruktur, die täglich für neues Chaos auf der Schiene sorgt. Lutz ärgert das, das ist ihm anzumerken, als er in der Karwoche die t-online-Redaktion in Berlin zum Interview besucht. Der 60-Jährige ist Eisenbahner in vierter Generation, "ich lebe für die Bahn", sagt er selbst. Doch ist er noch der Richtige an der Konzernspitze? Oder fällt er der neuen schwarz-roten Regierung zum Opfer, die den Vorstand des Staatskonzerns neu ordnen will? Und: Kann er eigentlich noch anonym Bahn fahren? Im Interview erklärt Lutz, wie viel Geld die Bahn aus dem geplanten Staatsschuldentopf für die Infrastruktur bräuchte, erzählt, wie sich Fahrgäste bei ihm selbst beschweren – und welchen Tipp er Reisenden am Osterwochenende gibt. t-online: Herr Lutz, ist dies das letzte Interview, das Sie als Bahnchef geben? Richard Lutz: Die Frage stelle ich mir nicht. Ich konzentriere mich mit voller Kraft auf meinen Job und das ist die Umsetzung unseres Sanierungsprogramms S3. Der Koalitionsvertrag der angehenden schwarz-roten Regierung lässt wenig Raum für Interpretationen. Auf Seite 27 heißt es: "Beim DB-Konzern soll eine Neuaufstellung von Aufsichtsrat und Vorstand erfolgen." Wie sehr zittern Sie vor Ihrem möglichen Rauswurf? Zu einem Job wie dem meinen gehört es, dass man sich nicht von den richtigen und wichtigen Dingen ablenken lässt. Meine Aufgabe ist es, die Infrastruktur zu sanieren und zu modernisieren, den Betrieb zu stabilisieren, die Pünktlichkeit zu verbessern und für Wirtschaftlichkeit zu sorgen. In Angststarre verfalle ich jedenfalls nicht. Sie haben aber von der "größten Krise seit 30 Jahren" bei der Bahn gesprochen. Wäre es nicht konsequent, wenn der Kopf des Krisenkonzerns – also Sie – dafür die persönliche Verantwortung übernimmt und geht? Wäre ich Verursacher der Krise, ließe sie sich sehr einfach und schnell lösen. Im Kern ist die Krise der Eisenbahn in Deutschland aber eine Infrastrukturkrise. Unser Schienennetz ist viel zu alt, zu störanfällig und zu voll. Immer mehr Menschen wollen Bahn fahren, mehr Güter werden per Zug transportiert. Das System steht unter enormen Druck, vielerorts sind wir jenseits der Belastungsgrenze. Im vergangenen Jahr haben wir zumindest den weiteren Verfall der Infrastruktur gestoppt. Das klingt nicht nach Selbstkritik. Ich sehe vieles kritisch. Auch Dinge, die ich selbst hätte besser machen können. Nämlich? Im Rückblick ist man oft schlauer. Beispielsweise wussten alle, dass der Sanierungsstau in der Infrastruktur trotz der höheren Mittel immer weiter ansteigt. Wir auf DB-Seite hatten aber unterschätzt, wie sehr der Eisenbahnbetrieb durch die immer schlechtere Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen wird. Mit dem Wissen von heute hätten wir damals auf höhere Mittel zur Sanierung des Bestandsnetzes drängen sollen. Und wir hätten früher radikaler gegensteuern müssen. Waren Sie zu leise? Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir 2019 mit den damals Verantwortlichen in der Regierung zusammensaßen und über die nötigen Mittel für die Modernisierung der Bahn sprachen. Unsere Forderungen lagen höher, wir haben am Ende aber akzeptiert, dass die Haushaltslage keine höheren Mittel zulässt. Aber wir haben gelernt. Nachdem sich – beginnend mit dem Jahreswechsel 2021/2022 – die betriebliche Lage immer mehr zugespitzt hat, haben wir auf deutlich höhere Mittel für die Bestandsnetzsanierung gedrungen. Mittlerweile ist die finanzielle Ausstattung für die Infrastruktur deutlich höher und wir kommen in der Sanierung des bestehenden Netzes voran. Heute ist die Bahn so unpünktlich wie nie zuvor. Nur zwei von drei Zügen kommen innerhalb der "zulässigen" Verspätung von bis zu 6 Minuten an. Wieso lässt sich das Bahnsystem nicht so organisieren, dass die Pünktlichkeit trotz der maroden Infrastruktur steigt? Das ginge schon. Während der Corona-Pandemie sind weniger Züge gefahren und die Pünktlichkeit im Fernverkehr lag bei über 80 Prozent. Mit dem jetzigen Zustand der Infrastruktur müssten wir rein rechnerisch 10 bis 20 Prozent des Zugverkehrs auf den überlasteten Strecken und den verstopften Knoten reduzieren, damit mindestens 80 Prozent der Züge pünktlich ankommen. Das machen wir aber nicht, weil das nicht die Lösung sein kann. Die Menschen und die Wirtschaft sind auf die Bahn angewiesen. Der Weg kann nur sein: weiter bauen, sanieren und modernisieren, um Kapazität und Qualität der Infrastruktur sukzessive zu erhöhen. Während dieser notwendigen Sanierungsphase müssen wir den Verkehr so dimensionieren, dass es ein Mindestmaß an Stabilität und Pünktlichkeit für die Kunden im Personen- und Güterverkehr gibt. Die schwarz-rote Bald-Koalition plant einen neuen Infrastrukturfonds, 500 Milliarden Euro soll er umfassen. Viel Geld, das in Teilen auch in die Bahninfrastruktur fließen soll. Wie viele Milliarden bräuchten Sie, um die Bahn wieder verlässlich zu machen? Der zusätzliche Finanzierungsbedarf für die Eisenbahn in Deutschland beläuft sich in Summe auf geschätzt bis zu 150 Milliarden Euro. Mindestens 80 Milliarden Euro davon benötigen wir für das bestehende Netz, von der Generalsanierung der Hochleistungskorridore über die Reparatur großer Eisenbahnbrücken bis zum Ausbau von Bahnhöfen und der Ertüchtigung moderner digitaler Stellwerke als Ersatz für Anlagen, die zum Teil noch aus der Kaiserzeit stammen. Die übrigen Mittel würden Ausbaumaßnahmen decken, zum Beispiel die Vergrößerung bestehender Bahnhöfe oder den Bau zusätzlicher Trassen, die das Netz insgesamt größer und robuster machen. Sehr viel Geld. Können Sie das mit den notwendigen Baukapazitäten überhaupt auf die Schiene bringen? Ja, können wir. Das haben wir im letzten Jahr gemeinsam mit der Bauindustrie auch bei der Sanierung der Riedbahn auf der Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim bewiesen. Bei den Generalsanierungen der hochbelasteten Strecken bauen wir ganz anders. Auch die Planungs- und Genehmigungsprozesse will die künftige Regierung weiter beschleunigen. In der Vergangenheit waren die Kapazitäten in den Baufirmen tatsächlich ein Problem. Oft war das Angebot knapp, was zu Preissteigerungen geführt und die Baustellen teurer gemacht hat. Viele Firmen waren skeptisch, ob das Geld langfristig zur Verfügung steht. Deshalb haben sie kein zusätzliches Personal aufgebaut oder in neue Maschinen investiert. Mit dem Sondervermögen für die Infrastruktur gibt es jetzt langfristige Planungs- und Finanzierungssicherheit, sodass die zusätzlichen Kapazitäten auch aufgebaut werden können. Das wird uns und der gesamten Bahn- und Baubranche sehr helfen. Wen wünschen Sie sich denn als künftigen Verkehrsminister? Ich habe mit allen Verkehrsministern konstruktiv und gut zusammengearbeitet. Mit dem scheidenden Verkehrsminister Volker Wissing haben wir die Wende bei der Bahn eingeleitet, darauf können wir jetzt aufbauen. Noch mal zur mangelnden Pünktlichkeit der Bahn: Im März fiel der erwähnte Prozentwert unter anderem deshalb, weil Hobbygärtner bei einer Baumfällaktion die Oberleitung zwischen Celle und Hamburg trafen und die Strecke tagelang gesperrt werden musste. Müssen Sie Ihre Ziele fürs laufende Jahr wegen solcher Vorfälle jetzt schon wieder kassieren? Solche Fälle tun weh und leider gibt es auch immer wieder externe Ereignisse, die uns zusätzlich zum Zustand des Schienennetzes zu schaffen machen. Dennoch halten wir an unserem Zielkorridor von 65 bis 70 Prozent Pünktlichkeit für 2025 fest. Das wird eine große Herausforderung, jeder Tag ist ein neuer Kampf. Und bis das Netz im großen Umfang saniert ist, wird es ein Kampf bleiben, in einem teils hochbelasteten Schienennetz mit Mischverkehr, wo Fernzüge, Regionalbahnen und Güterwaggons über dieselben Gleise rollen. Wäre es angesichts dessen nicht schlauer, neue Gleise zu verlegen, die wie in anderen Ländern der schnelle Fernverkehr allein nutzen kann? Das wäre es absolut. Und an manchen Stellen ist das auch geplant. Zwischen Frankfurt und Mannheim etwa ist eine solche Trennung über eine Neubaustrecke parallel zur bestehenden Riedbahn-Strecke geplant, um den Verkehr zu entlasten. Allerdings wird die Inbetriebnahme erst im nächsten Jahrzehnt sein. Deshalb müssen wir uns in den nächsten Jahren auf die Sanierung des bestehenden Netzes konzentrieren. Das gilt für das hochbelastete Kernnetz genauso wie für das Flächennetz. Wenn man viel Bahn fährt, erlebt man immer wieder Schaffner und Zugbegleiter, die selbst genervt sind, die mit Sarkasmus und Galgenhumor auf die Krise der Bahn reagieren. Macht es Ihnen zu schaffen, dass sogar Ihre Mitarbeiter nicht mehr an das Unternehmen glauben? Ich habe allerhöchsten Respekt vor der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen, die tagtäglich dem teils berechtigten Ärger unserer Kunden begegnen und wirklich ihr Bestes geben, um den Betrieb am Laufen zu halten. Und ich finde es gut, wenn sie trotz Anspannung und Stress in vielen Situationen oft noch mit Humor reagieren. Ich freue mich auch darüber, dass unser Bordpersonal von den Fahrgästen seit Jahren Bestnoten bekommt. Das ist ein ganz wichtiger Faktor für die Zufriedenheit der Kunden. Das bekomme ich auch oft von Reisenden gespiegelt. Können Sie eigentlich anonym Bahn fahren? Ich werde sehr häufig im Zug erkannt, sowohl vom Bordpersonal, aber auch oft von den Fahrgästen. So komme ich mit vielen Menschen ins Gespräch. Fahren Sie erster oder zweiter Klasse? Ich reise in aller Regel in der ersten Klasse. Wenn es voll ist, auch in der zweiten Klasse. Und was sagen Ihnen die Fahrgäste? Das ist ganz unterschiedlich. Klar, manche schimpfen auch über Probleme. Ich kann verstehen, dass der Ärger manchmal groß ist. Genau deshalb müssen wir erklären, was wir tun, damit die Qualität wieder besser wird. Wir müssen um Verständnis für die vielen Baustellen bitten und weiter unsere Arbeit machen. Ich bekomme auch gute, konstruktive Hinweise. Zum Beispiel haben wir den Prozess für Entschädigungszahlungen umgestellt und digitalisiert, weil er zu kompliziert war. Da sind die Hinweise unserer Fahrgäste eingeflossen. Was macht das mit Ihnen, dass Sie beschimpft werden? In meiner Familie bin ich in der vierten Generation Eisenbahner, ich lebe für die Bahn. Natürlich lässt es mich nicht kalt, wenn unsere Fahrgäste sauer und wütend sind. Ich leide da mit. Zugleich gilt: Jammern und schimpfen kann man immer, entscheidend ist, dass sich etwas bessert. Mit unserem im letzten Jahr gestarteten Sanierungsprogramm sehen wir erste Erfolge. Das spornt an und diesen Weg werden wir konsequent weitergehen. Härter und öfter trifft die Wut der Kunden das Bahnpersonal. Bemerken Sie die Verrohung der Gesellschaft, von der so oft die Rede ist? Jede Form von Gewalt gegen unsere Beschäftigten ist völlig inakzeptabel. Wir sind aber leider Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen. Im letzten Jahr gab es rund 3.300 körperliche Übergriffe, knapp sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Rund die Hälfte betraf das Zugpersonal im Regionalverkehr, aber auch Reinigungskräfte oder Servicekräfte am Bahnhof oder Kundenberaterinnen oder Busfahrer wurden angegriffen. Was tun Sie konkret dagegen? Die Sicherheit unserer Mitarbeitenden hat oberste Priorität. Daher statten wir beispielsweise im Regionalverkehr unser Personal in der Kundenbetreuung seit 2024 sukzessive und auf freiwilliger Basis mit Bodycams aus. Diese Geräte haben sich bei Sicherheitskräften und Zugpersonal bewährt. Außerdem schulen wir unsere Kolleginnen und Kollegen in Deeskalationstrainings. Im Nahverkehr gibt es zudem einen Notfall-Druckknopf, den Prio-Ruf, um schnell Hilfe zu rufen. Jetzt steht das Osterwochenende an, viele Menschen besuchen ihre Familien und fahren dafür Zug. Wie voll wird's in den Zügen, worauf müssen sich Reisende einstellen? Die Zeit vor und nach Ostern ist jedes Jahr eine Herausforderung für uns, in diesem Jahr wegen vieler Baustellen eine besondere. Zwar sind weniger Geschäftsreisende und Güterzüge unterwegs, allerdings fahren auch weniger Züge, weil wir die Feiertage nutzen, um auf zahlreichen Baustellen im ganzen Netz vorwärtszukommen. Letztes Jahr sind über die Ostertage rund 1,9 Millionen Menschen in unseren ICEs und ICs gereist, dieses Jahr erwarten wir noch mal fünf bis zehn Prozent mehr. Wann wäre das Ostergeschäft aus Ihrer Sicht ein Erfolg – und wann kippen die Großkampftage um in Richtung Vollkatastrophe? Unser Team DB tut alles dafür, dass die Reisenden an ihr Ziel kommen, aber alle wissen: Wegen der vielen Baustellen und der nach wie vor hohen Störanfälligkeit der Anlagen ist das System extrem auf Kante genäht. Wenn dann noch irgendwo im Kernnetz etwas Ungeplantes passiert, hat das häufig extreme Auswirkungen auf den gesamten Verkehr. Deshalb bitte ich unsere Reisenden um Verständnis und um Geduld, wenn es auf den Umleitungsstrecken länger dauert oder es zu Verspätungen kommt. Mein Tipp an alle Reisenden: den DB Navigator nutzen und sich über die "Reise merken"-Funktion mit aktuellen Informationen versorgen lassen. Sie sind nun seit acht Jahren Chef der Bahn. Worauf sind Sie rückblickend stolz? Was ich bis heute gut und richtig finde, ist unsere Konzernstrategie "Starke Schiene", mit der wir uns 2019 zu unserer gesellschaftlichen Verantwortung bekannt haben: für das Klima, die Menschen, die Wirtschaft und für Europa. Die Strategie ist nach wie vor unser Nordstern, sie trifft für viele bei der Bahn den emotionalen Kern ihrer Arbeit. Aber die Krisen der letzten Jahre haben Spuren hinterlassen. Deshalb war es auch richtig, dass wir letztes Jahr mit dem Programm S3 die umfassende Sanierung des Konzerns gestartet haben, damit wir wieder zurück auf Kurs kommen. Und was bedauern Sie? Dass wir uns mit unseren Forderungen nach mehr Investitionen für die Sanierung des Schienennetzes nicht früher durchgesetzt haben. Manchmal muss es zur Krise kommen, damit sich wirklich etwas ändert. Dass wir da in guter Gesellschaft mit der gesamten Infrastruktur im Land sind, macht die Sache nicht besser. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir die Trendwende in der Infrastruktur jetzt eingeleitet haben und mit dem Sondervermögen jedenfalls auf absehbare Zeit keine Finanzierungsengpässe haben werden. Herr Lutz, vielen Dank für das Gespräch.