Reiner Calmund: "Ich habe geheult wie ein Schlosshund"

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Reiner Calmund wird 77 Jahre alt. Das einstige Manager-Schwergewicht hat sich vom Fernsehen verabschiedet und geht neue Wege. Im Interview strotzt "Calli" nur so vor Tatendrang. Als das Interview beginnt, sprudelt es nur so aus Reiner Calmund heraus. Mit einem schwarzen Rollkragenpullover bekleidet, sitzt er in seinem Haus in Saarlouis und redet ohne Punkt und Komma – über seine Kindheit in einfachsten Verhältnissen, seinen kometenhaften Aufstieg zu einem der bekanntesten Fußballmanager des Landes. Er spricht über seine "Halbierung" in den vergangenen Jahren, über Rassismus , der ihn in Deutschland sorgt, und über die Frage, warum er eigentlich so selten über seinen Vater redet. t-online: Herr Calmund, wenn man Sie heute sieht, ist es kaum zu glauben: Früher 180 Kilo, heute 90. Wie kam es zu diesem radikalen Wandel? Reiner Calmund: Ich habe lange gehadert, viele Kuren gemacht, viel abgenommen – und alles wieder draufgepackt. Es war ein Auf und Ab in Dauerschleife, der Jo-Jo-Effekt war immer Sieger. Klingt weit weg von Halbierung … Der Moment der Wahrheit kam später: Ich war mit meiner Frau Sylvia und unserer jungen Tochter Nicha in den USA unterwegs. Bei einem Inlandsflug von San Diego nach San Francisco wurde ich am Flughafen ungefragt mit einem Rollstuhl vom Check-in zum Flugzeug gefahren. Ich war sprachlos, allerdings hat es in meinem Gehirn Klick gemacht. War Ihnen das peinlich? Natürlich. Ich habe bei der Rollstuhlfahrt inständig gehofft, nicht erkannt zu werden – und soweit ich weiß, wurde ich das damals zum Glück auch nicht. Und dann kam die OP? Uli Hoeneß hatte mich nach meinem USA-Urlaub mit meinem Hausarzt – der ein großer FC-Bayern-Fan ist – nach München zum Bundesligaspiel eingeladen. Uli hat meine Gewichtsklasse kritisiert und mir direkt einen Kontakt zur Klinik in Großhadern vermittelt. Durch meine gleichzeitigen TV-Auftritte beim "Doppelpass" und "Sky Deadline Day" konnte ich den Termin bei dem erfahrenen Professor direkt mit meinem Hausarzt wahrnehmen. Er hat mir deutlich klargemacht, dass nur eine Magenverkleinerung mein Gewicht dauerhaft reduzieren könnte. Wie ging es weiter? Drei Tage später hat mir mein Freund Prof. Dr. Werner Mang bei seiner 70. Geburtstagsfeier dringend die gleiche Empfehlung gegeben und gleich einen Termin in der Sana-Klinik Offenbach vereinbart. Ich habe dort sofort dem OP-Termin zur Magenverkleinerung inklusive des wichtigen Bypasses zugestimmt und gleichzeitig sogar ein Testament gemacht. Wieso das? Es war vollkommen übertrieben im Nachhinein, aber ich hatte große Angst. Ich war ein Feigling und hatte seit meiner Mandel-OP vor 65 Jahren keinen Operationssaal mehr von innen gesehen. In dieser Gemengelage hielt ich es für das Beste, für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Was stand denn in Ihrem Testament? Ich habe alles vernünftig geregelt, allerdings war ich nach nur vier Tagen schon wieder im Einsatz. Sind Sie seit der OP ein neuer Mensch? Es war die beste Entscheidung meines Lebens. Ich fühle mich besser denn je und ich esse weiter gerne, aber eben viel weniger. Was bedeutet Ihnen Ihre Frau Sylvia? Alles. Wir stehen kurz vor der Silberhochzeit. Sie war nie nur die schöne Frau an meiner Seite – auch wenn sie früher mal gemodelt hat. Sie ist mein Ruhepol, mein Management, mein Rückhalt, meine Liebe. Wir haben zusammen unsere Tochter adoptiert – und das war vielleicht das schönste Geschenk meines Lebens. Auch wenn es bei ihr mit eigenen Kindern nicht geklappt hat: Heute bin ich froh darüber. Denn sonst hätten wir unsere Nicha vielleicht nie kennengelernt. Sylvia, wie war das für Sie – gerade nach seinem Rücktritt aus dem Fußball? Sylvia Calmund : Es war eine wahnsinnig intensive Zeit. Alle dachten, jetzt hat er ja Zeit – und wollten irgendwas. Ich habe versucht, Struktur reinzubringen. Verträge, Termine, Anfragen – und Absagen, das konnte Calli nämlich gar nicht. Und ganz ehrlich: Ich bin da reingewachsen. Heute bin ich längst nicht mehr seine Assistentin. Wir sind ein Team, wir arbeiten auf Augenhöhe, und Calli weiß, was er daran hat. Wichtig ist, dass wir uns zu einhundert Prozent auf uns verlassen können. Herr Calmund, Sie sagen von sich selbst, Sie seien der Boss. Aber was sagt Ihre Frau? Ich sage immer: Ich bin der Boss – und mache, was meine Frau sagt. (lacht) Das hat sich bewährt. Sie sind 1948 geboren, aufgewachsen in einer Zeit des Umbruchs. Welche Rolle spielte das für Ihre Weltsicht? Ich bin in einer Bergarbeitersiedlung groß geworden – mit Plumpsklo über den Hof, einem Badetag pro Woche in der Waschküche. Unsere Nachbarn waren Gastarbeiter – erst aus Bayern, dann kamen Spanier, Italiener, Türken. Das war völlig normal. Wir haben zusammen gespielt, gegessen, gelebt. Ohne diese Menschen hätten wir das Wirtschaftswunder gar nicht geschafft. Das war für mich prägend – ich bin offen aufgewachsen. Heute ist die Stimmung in Deutschland oft gereizt, es gibt viel Misstrauen gegenüber Zuwanderung. Was macht das mit Ihnen? Ich kann das nicht nachvollziehen, ohne die Zuwanderung von Gastarbeitern wäre das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Krieg gar nicht möglich gewesen. Für mich ist die Fremdenfeindlichkeit unerträglich. Bei den Gastarbeitern gibt es genauso schwarze Schafe wie bei den Deutschen. Wir brauchen Zuwanderung, wir brauchen Offenheit. Ohne das wird unser Land nicht bestehen. Wo würden Sie sich politisch verorten? Ich bin kein Parteipolitiker, habe in meinem Leben rote und schwarze Kanzler gewählt: Willy Brandt, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder , aber eben auch Helmut Kohl und Angela Merkel . Ich schaue auf den Menschen, nicht auf das Parteibuch. Wie meinen Sie das genau? Ich habe zum Beispiel ein gutes Verhältnis mit Gregor Gysi – auch wenn ich die Linke sicher nicht wähle, sage ich ganz klar: Gysi ist ein redlicher Typ. Klar, klug im Kopf und anständig im Umgang. Entscheidend ist für mich nicht, in jedem Punkt einer Meinung zu sein – sondern wie jemand menschlich tickt. Und da hat Gysi bei mir voll gepunktet. So wie Sie über Jahrzehnte mit Bayer Leverkusen . Ja, das kann man so sagen. (lacht) Dabei kamen Sie zu Ihrem Job eher wie die Jungfrau zum Kinde. Bereits in Ihrem ersten Vertragsjahr stieg Bayer 04 überraschend in die Bundesliga auf. Stimmt, meine Managerkarriere begann eigentlich zufällig. Ich war zwar ein erfolgreicher Jugend-Auswahltrainer, dann kam das Angebot von Bayer 04 – und plötzlich stand ich als 2. Vorsitzender und Manager da. In meiner ersten Saison haben wir nach dem Aufstieg in die 2. Bundesliga gänzlich überraschend mit Cheftrainer Willibert Kremer den Aufstieg in die Bundesliga geschafft. Die Zielsetzung war danach ausschließlich der Klassenerhalt. Bayer 04 spielt nun seit 47 Jahren durchgehend in der Bundesliga, nur Bayern München kann da eine längere ununterbrochene Bundesliga-Spielzeit nachweisen. Wie bewerten Sie Ihre sportliche Bilanz mit Bayer 04? Es geht nicht um meine, sondern in erster Linie um die gesamte Bilanz von Bayer 04. Neben der langersehnten Deutschen Meisterschaft 2024 stand ich vorher ja persönlich vor allem bei den vielen Vizetiteln im Rampenlicht. Neben dem Gewinn des Uefa-Cups und den zwei DFB-Pokalsiegen haben wir seit der Einführung des europäischen Königswettbewerbs 1997 immerhin 17-mal an der Champions League teilgenommen. In diesem Zusammenhang muss ich besonders dem aktuellen Fußballchef Fernando Carro, seinem Manager Simon Rolfes und den vielen Mitarbeitern von Bayer 04 gratulieren, von denen viele schon während meiner Zeit dabei waren. Danach wurden Sie Kultfigur im TV – Big Boss, Kochshows, Werbung. War das eine geplante zweite Karriere? Geplant war das nicht. Aber nach dem Rückzug aus dem Tagesgeschäft im Fußball kamen plötzlich Anfragen ohne Ende. RTL bot mir damals ein sehr ordentliches Paket an – so viel habe ich als Fußballmanager nicht verdient. Wie genau müssen wir uns das finanziell vorstellen? Ich war leitender Angestellter bei der Bayer AG – das war ordentlich, aber nicht vergleichbar mit heutigen Gehältern. Ich habe nie gescheffelt, sondern auch viel gegeben. Das habe ich von meiner Mutter – Hilfsbereitschaft war immer wichtig. Heute bin ich gut versorgt, das reicht mir. Was war an dem Karriereschritt in Richtung Fernsehen noch reizvoll für Sie? Ich hatte Lust, etwas ganz anderes zu machen. Vor allem haben mich neben den Fußballsendungen die Kochshows begeistert: Ich habe bei "Grill den Henssler" und Co. insgesamt 263 Sendungen mitgemacht – und trotz des Gewichtsverlusts nie den Appetit verloren. Wenn in drei Jahren anlässlich Ihres 80. Geburtstags ein Filmteam käme, um Ihr Leben zu verfilmen – wie würde der Titel lauten? "Durch dick und dünn" – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe viele Höhen erlebt, aber auch Rückschläge. Und ich bin für alles dankbar. Es gibt nichts, das Sie bereuen? Nein. Natürlich hätte ich mit dem Wissen von heute manches anders gemacht – aber ich lebe im Hier und Jetzt. Wer behauptet, er habe nie Fehler gemacht, sollte dringend einen Arzt aufsuchen. Apropos Visionen: Was erwarten Sie von der deutschen Nationalmannschaft bei der nächsten WM? Wir sind die Chefbedenkenträger der Welt. Immer meckern, immer zweifeln. Im Schlechtreden sind wir also bereits Weltmeister. Aber ich sage: Lasst die Jungs spielen, lasst uns überraschen. Ich selbst werde wahrscheinlich – wie 2014 – nur die Vorrunde vor Ort verfolgen. Danach schaue ich lieber vom Schiff aus zu. Da kann ich notfalls auch mal rauslaufen, wenn es zu spannend wird. Was mir aufgefallen ist: Sie haben in unserem einstündigen Gespräch Ihre Mutter erwähnt, Ihre einfache Kindheit. Aber über Ihren Vater haben Sie nicht gesprochen. Ich habe ihn leider nur für eine kurze Zeit kennengelernt. Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater starb. Er ging in den Fünfzigerjahren nach einem Familienstreit nach Vietnam und starb dort im Einsatz für die französische Fremdenlegion. Haben Sie das je aufgearbeitet? Ich bin im Jahr 2008 nach Vietnam geflogen und habe seine Grabstelle besucht. Für mich war das damals alles sehr emotional. Ich habe geheult wie ein Schlosshund und mich gefragt, warum er damals weggegangen ist – so richtig verstehe ich es bis heute nicht. Wenn Sie nach all den Kapiteln Ihres Lebens nach vorn blicken: Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Ich will kein Schaukelstuhlrentner sein, aber auch kein Getriebener. Ich bleibe neugierig, bleibe dran – aber ohne Hektik. Ich höre zu, gebe meine Erfahrungen weiter, wo es passt. Und ich lerne dazu, jeden Tag. Man muss auch mal sagen: Da halte ich jetzt die Klappe, da habe ich keine Ahnung – das fällt mir heute leichter als früher. Was fällt Ihnen noch leicht? Immer und überall über Fußball zu quatschen. Deshalb toure ich im kommenden Frühjahr durch 34 deutsche Städte mit dem Programm "Ein runder Abend mit Fußball und Freunden". Die Gästeliste ist grob entworfen, sie bleibt natürlich geheim, aber ich kann jede Menge Prominenz versprechen. Moderiert werden die Veranstaltungen von Thomas Helmer, aber ich entscheide, wie viel er redet. (lacht) Was gibt Ihnen Halt? Meine Frau. Unsere Tochter. Unsere Familie. Ich war früher der Chef – heute ist meine Sylvia es. Und das ist auch gut so. Wenn ich mit 77 eins gelernt habe, dann das: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber es spielt trotzdem manchmal wunderschöne Lieder – man muss sich nur die Zeit nehmen, richtig zuzuhören.
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