Der "Herbst der Reformen" soll Deutschland modernisieren. Welche Fortschritte Union und SPD machen und warum die Sozialsysteme trotzdem schwächeln. Rente , Bürgergeld, Steuern , Gesundheit: Die Bundesregierung hatte sich für den "Herbst der Reformen" viel vorgenommen, um Deutschland und seine Sozialsysteme wieder leistungsfähiger zu machen. Wie weit sind die verschiedenen Vorhaben gediehen und wo knirscht es noch zwischen den Koalitionspartnern? Rente: Ein kleiner Satz mit großen Folgen Kaum ein Thema der Sozialpolitik wird so emotional diskutiert wie die Rente. Und bei kaum einem Thema scheint es so wenig substanzielle Reformfortschritte zu geben. Zwar hat sich die Regierung von Kanzler Friedrich Merz (CDU) formal auf ein Rentenpaket geeinigt , doch das verursacht vor allem zusätzliche Kosten, statt das Umlagesystem zu entlasten. Stabiles Rentenniveau bei 48 Prozent , Ausweitung der Mütterrente und Einführung der sogenannten Aktivrente : Beide Parteien der schwarz-roten Koalition durften das Paket mit einem Herzensprojekt bestücken. Wohl auch aus taktischen Gründen, um den Gesetzgebungsprozess möglichst reibungsfrei über die Bühne zu bringen. Denn: Wer Kritik am Vorhaben des Koalitionspartners äußert, läuft Gefahr, dass andersherum dessen Unterstützung fürs eigene Projekt schwindet. Also bleiben alle ruhig und tragen das Paket im Ganzen mit – oder? Nein. Die sogenannte Junge Gruppe innerhalb der Unionsfraktion droht, das Rentenpaket zu blockieren . Ihr Vorwurf: Bei der Stabilisierung des Rentenniveaus – dem Anliegen der SPD – gehe das Gesetz über den Koalitionsvertrag hinaus und belaste die junge Generation über Gebühr. Pascal Reddig, CDU-Politiker und Vorsitzender der Jungen Gruppe, sagte t-online: "Der jetzige Entwurf ist eine schwere Hypothek für die junge Generation". Anlass für die Kritik ist folgender Satz: "Auch nach 2031 liegt das Rentenniveau um rund einen Prozentpunkt höher als im geltenden Recht." Junge Gruppe fordert sinkendes Rentenniveau Der Satz beschreibt eine mathematische Folge der Reform: Wird das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent festgeschrieben, führt diese sogenannte Haltelinie selbst dazu, dass das Rentenniveau auch nach 2031 höher ausfällt als nach aktuellem Recht. Denn die jährlichen Rentenanpassungen berechnen sich dadurch ab 2032 von einem höheren Ausgangswert aus als ohne die Haltelinie. Die Junge Gruppe fordert, das Rentenniveau ab 2032 wieder sinken zu lassen – ein Vorschlag, der bei der SPD Empörung auslöste. SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt nannte die Argumentation der jungen Unionsabgeordneten eine "Generationentäuschung". Mütterrente: ein teures Geschenk Auch die Unionsvorhaben im Rentenpaket stehen in der Kritik, allerdings weniger koalitionsintern. Vor allem der geplante Ausbau der Mütterrente ärgert die Arbeitgeber. Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, forderte die Bundesregierung auf, angesichts der schwachen Wirtschaftslage auf das Vorhaben zu verzichten. Auch Ökonomen hatten dafür plädiert, die milliardenschwere Mütterrente zu stoppen. Sie soll aus Steuermitteln finanziert werden, um Beitragszahler nicht noch stärker zu belasten als ohnehin schon. Diese Mittel fehlen dann allerdings für Investitionen. Mütterrente: Dieser Koalition glaubt man einfach kein Wort Leserinnen über Mütterrente: "20 Euro machen den Kohl nicht fett" Bei der Mütterrente sollen Eltern, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, gleich viele Rentenpunkte für Kindererziehungszeiten erhalten wie Eltern, deren Kinder nach 1992 geboren wurden. Pro Kind würde das die Rente um rund 20 Euro erhöhen. Nutzen der Aktivrente unklar Auch die Aktivrente wird weder von Arbeitgebern noch von Sozialverbänden herbeigesehnt. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA, kritisierte etwa, dass es wenig Sinn ergebe, mit der Aktivrente längeres Arbeiten zu fördern, wenn gleichzeitig die Möglichkeit bestehen bleibe, abschlagsfrei in Frührente zu gehen. Sozialverbände wie der VdK hingegen bemängeln, dass von der Aktivrente vor allem gut verdienende Akademiker in Bürojobs profitieren würden und nicht jene, die den steuerfreien Hinzuverdienst wirklich nötig hätten. Aktivrente: Rentnerbonus fällt noch höher aus Arbeiten im Ruhestand: Aktivrente steht vor ganz praktischem Problem Das Rentenpaket mit stabilem Rentenniveau, Mütterrente und Aktivrente war Mitte Oktober erstmals im Bundestag debattiert worden und soll dort noch im November verabschiedet werden. Vorausgesetzt, die Union schafft es, sich bis dahin den Rückhalt der Jungen Gruppe zu sichern. Regierung überrascht mit weiterer Rentenreform Parallel soll noch in diesem Jahr eine Reform im Kabinett beschlossen werden, die diesen Namen tatsächlich verdient hätte: die Reform der privaten Altersvorsorge . Gesucht wird ein Nachfolger für die gescheiterte Riester-Rente – und ist womöglich auch schon gefunden. Denn im Finanzministerium liegt noch der Gesetzentwurf für ein sogenanntes Altersvorsorgedepot in der Schublade, mit dem Bürger staatlich gefördert an der Börse sparen können . Fachleute sehen darin einen echten Fortschritt. Thomas Soltau, Vorstand des Neobrokers Smartbroker, sagt: "Das ist ein Gamechanger." Der deutsche Fondsverband BVI lobt das Vorhaben, weil es "die Rentenlücke von 50 Millionen Menschen" verkleinern könne. Voraussetzung: Die Fehler der Riester-Rente – hohe Kosten, Intransparenz und übertriebene Garantien – dürfen sich nicht wiederholen. Steuern: mehrere Maßnahmen, überschaubare Wirkung Mehr Netto vom Brutto: Mit diesem Versprechen ist die Union durch den Wahlkampf gezogen. Das sollte mit Steuerentlastungen gelingen, doch große Erleichterungen sind derzeit nicht in Sicht. Die Einkommensteuer soll laut Koalitionsvertrag "für kleine und mittlere Einkommen" erst zur Mitte der Legislatur sinken – sofern es die wirtschaftliche Lage zulässt. Die angekündigte schnelle Stromsteuersenkung für alle wurde zudem auf unbestimmte Zeit verschoben, sie kam bisher nur für die Industrie . Stattdessen gibt es einen Zuschuss zu den Netzentgelten ab 2026, den die Betreiber aber nicht an Stromkunden weitergeben müssen. Ein paar Erleichterungen gibt es aber doch: So soll mit dem Steueränderungsgesetz zum Jahreswechsel die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer auf 38 Cent steigen, die Mehrwertsteuer in der Gastronomie wieder auf sieben Prozent sinken. Doch die Länder laufen Sturm, sie müssten die Einnahmeausfälle schultern. Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) erteilte einer Kompensation aber bereits eine Absage und forderte die Länder zu härteren Sparmaßnahmen auf. Höhere Pendlerpauschale ab 2026: So viel bringt sie Für Arbeitnehmer soll mit dem Arbeitsmarktstärkungsgesetz eine weitere Entlastung folgen: die geplante Steuerfreiheit für Überstundenzuschläge . Damit sollen Arbeitnehmer motiviert werden, mehr zu arbeiten, um die Wirtschaft zu stärken und den Fachkräftemangel zu mindern. Doch die Wirkung dürfte überschaubar bleiben. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) bei der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass nur 1,4 Prozent der Beschäftigten profitieren würden . "Im Durchschnitt aller Beschäftigten in Deutschland blieben deshalb nur 0,87 Euro pro Monat steuerfrei, die mittlere Steuerersparnis fällt mit monatlich 0,31 Euro noch einmal dürftiger aus", teilte das WSI mit. Das Arbeitsmarktstärkungsgesetz muss noch durchs Kabinett und anschließend vom Bundestag beschlossen werden. Bürgergeld: Strengere Regeln für Betroffene Das von der Ampelkoalition eingeführte Bürgergeld steht vor dem Aus. Es soll auf Drängen der Union durch eine neue Grundsicherung ersetzt werden, die strengere Sanktionen vorsieht. Anfang Oktober einigte sich der Koalitionsausschuss auf die Reform, die das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium erarbeitet hat. Laut Gesetzentwurf ist unter anderem geplant, dass Leistungen beim dritten verpassten Termin im Jobcenter vollständig gestrichen werden können. Außerdem sollen Grundsicherungsempfänger weniger Schonvermögen besitzen dürfen. Die Freibeträge sollen nach Alter gestaffelt werden , Karenzzeiten sollen wegfallen. SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas war einer Komplett-Streichung gegenüber kritisch eingestellt, trotzdem regt sich innerparteilicher Widerstand: Eine Gruppe um Juso-Chef Philipp Türmer hat ein Mitgliederbegehren gegen die Bürgergeldreform gestartet. Der Gesetzentwurf soll Anfang 2026 in den Bundestag kommen und bis zum Frühjahr in Kraft treten. Die erheblichen Einsparungen, die sich die Union durch die Reform versprochen hatte, wird es aber wohl nicht geben. Im Gesetzentwurf ist nur noch von Millionen die Rede, CDU und CSU hatten stets von Einsparungen in Milliardenhöhe gesprochen. Bürokratieabbau soll Milliarden-Entlastung bringen Um die lahmende Wirtschaft anzukurbeln, hat das sogenannte Entlastungskabinett der Regierung am vergangenen Mittwoch ein ganzes Bündel an Maßnahmen beschlossen, um Bürokratie abzubauen . Auf den Weg gebracht wurden acht fertige Gesetzentwürfe, die es zum Beispiel erlauben, Kaufverträge von Grundstücken komplett digital auszutauschen oder den Führerschein aufs Handy zu bringen. Von den Entwürfen verspricht sich die Regierung etwa 100 Millionen Euro an Entlastung. Digitalminister Wildberger im Interview: "Diese Entwicklung ist kaum zu fassen" Weitere rund 50 Maßnahmen sollen "bis spätestens Mitte 2026 kabinettreif sein". Dazu zählen etwa eine "Work-and-Stay-Agentur" als zentrale Anlaufstelle für ausländische Fachkräfte, Änderungen im Baurecht, beim Arbeitsschutz und das Vorhaben, die Umweltplaketten für E-Autos abzuschaffen. So sollen zusätzliche Entlastungen in Milliardenhöhe entstehen. Bereits beschlossen wurde im Sommer der Investitionsbooster, mit dem Unternehmen mehr Möglichkeiten zu Abschreibungen erhalten . Krankenversicherung: Höhere Beiträge befürchtet Auch die gesetzliche Krankenversicherung steht unter Druck. Um zu verhindern, dass die Beiträge zum Jahreswechsel erneut steigen, hat Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) ein Sparpaket von zwei Milliarden Euro aufgelegt, das der Bundestag vergangenen Donnerstag billigte. Doch die Kassen zweifeln, dass das reicht. DAK-Chef Andreas Storm sagte im Interview mit t-online : "Der durchschnittliche Zusatzbeitrag wird Anfang kommenden Jahres trotzdem über die Drei-Prozent-Marke steigen. Viele Kassen müssen ihre Rücklagen auffüllen. Diesen Effekt hat die Bundesgesundheitsministerin in ihrer Rechnung nicht berücksichtigt." Die Krankenkassen entscheiden in den kommenden Wochen selbst darüber, wie hoch die konkreten Zusatzbeiträge für 2026 ausfallen. Erst Anfang 2025 hatte es eine Welle kräftiger Erhöhungen gegeben, im Laufe des Jahres kamen weitere Erhöhungen hinzu.