Der Prozess hat schaurige Details über P. Diddy ans Licht gebracht. Er erschuf über Jahrzehnte ein System aus Verschwiegenheit und Loyalität. Jetzt ist es kollabiert. Oder? Es gibt Videos, da wirkt er wie eine gottähnliche, in Weiß gehüllte Figur. Sean Combs, besser bekannt als P. Diddy, steht auf einer Empore seines Anwesens. Unter ihm tummelt sich Jahr für Jahr die Crème de la Crème schillernder Mega-Stars – von Kim Kardashian über Leonardo DiCaprio bis Paris Hilton und Mariah Carey , um nur einige wenige zu nennen. P. Diddy hält eine Ansprache, dort oben, über ihnen thronend, auf seinem eigenen, selbst errichteten Party-Olymp. "Und was die Kinder angeht: Sie haben noch eine Stunde Zeit", verkündet er. "Danach verwandelt sich diese Sache in etwas, zu dem ihr alle kommen wollt, wenn ihr älter werdet ... also lasst uns einfach anfangen, uns zu entspannen und die Kinder wegzubringen." Gelächter brandet auf. Der Rapper gibt seinem DJ die Anweisung, die Musik anzuwerfen und legt sein Mikrofon zur Seite. Eine seiner berühmt-berüchtigten "White Partys" beginnt, die er mehr als eine Dekade lang zwischen 1998 und 2009 in den Hamptons veranstaltete. Und es gibt Videos, da sieht man P. Diddy nur mit einem Handtuch bekleidet durch einen Hotelflur jagen. Er setzt einer Frau nach, die offenbar vor ihm die Flucht ergreift. Als sie vor den Fahrstühlen zum Warten gezwungen wird, packt er sie von hinten, reißt sie zu Boden und tritt auf sie ein. Der US-Sender CNN veröffentlichte im Mai 2024 das Videomaterial aus dem Jahr 2016: Es zeigt den Rapper, wie er seine Ex-Freundin Cassie Ventura attackiert. Dieses Video wurde zu einem der zentralen Beweisstücke im Prozess in New York , in dem die Anklage Diddy vorwarf, Frauen mit Drohungen und Gewalt zur Teilnahme an Drogen- und Sex-Partys gezwungen zu haben. Am Ende entschieden die Geschworenen: Der US-Rapper ist teilweise schuldig – eine lebenslange Haftstrafe dürfte dem 55-Jährigen nicht mehr drohen. Das Gericht will das Strafmaß später verkünden. Mehr dazu lesen Sie hier. "Ich würde ihn als Chamäleon beschreiben" Der legendäre Hip-Hop-Gatsby einerseits und der raubtierartige Frauenschläger andererseits. Immer mehr verschmolzen diese zwei Figuren in den vergangenen Wochen in der Öffentlichkeit zu der Frage, wer dieser P. Diddy wirklich ist. Was er noch alles für Leichen im Keller hat, welche Stars und Partner, Unternehmen und Sender sich künftig von ihm abwenden werden. Eva Ries, die jahrelang den Wu-Tang-Clan managte und P. Diddy persönlich kannte, sagte in einem Interview mit dem "Spiegel" über die zwei Seiten des Rappers: "Er ist ein Stratege, smart und weltgewandt. Ich würde ihn als Chamäleon beschreiben: Auf der einen Seite ist er ein echter Streetgangster – rough und tough, mit guten Verbindungen ins kriminelle Milieu. Auf der anderen Seite ist er ein Gentleman, der bei Bedarf mit der US-Vorzeigeunternehmerin und Fernsehköchin Martha Stewart oder den Chefs des Guggenheim-Museums dinieren kann." Ein Weltwandler, dem der Erfolg zu Kopf stieg? Der immer wildere Partys veranstaltete, sich mit den Schönen und Reichen umgab, Geld und Macht anhäufte – und damit eines Tages nicht mehr angemessen umging? Der Prozess zeigte, dass sich der einst milliardenschwere Musikstar an Frauen verging, dass er seine Macht missbrauchte und einen Pornoring aufbaute, der an den Fall Jeffrey Epstein erinnert. Doch nicht alles, so die Jury, sei ihm zweifelsfrei nachzuweisen gewesen. Mehrere Frauen warfen dem Musikmogul Missbrauch und Vergewaltigung vor. Seine Ex-Freundin Cassie Ventura machte vergangenes Jahr den Anfang, weitere kamen hinzu. Combs soll Frauen unter Drogen gesetzt, gefesselt und "brutal vergewaltigt" haben. Drogenüberflutete Sexpartys, Gewalt, Menschenhandel wurden während des wochenlangen Prozesses thematisiert. Im März vergangenen Jahres durchsuchten bewaffnete Polizisten seine Villen in Miami und Los Angeles . Seit fast einem Jahr saß Diddy im Gefängnis. P. Diddy, der Pate mit dem Netzwerk Combs selbst sprach von einer "Hexenjagd" und wies die Anschuldigungen zurück. Doch je mehr Frauen sich zu Wort meldeten, je mehr Medien Recherchen anstellten, desto schauriger wurde das Bild, das sich von diesem über Jahrzehnte gefeierten Star ergab. P. Diddy, der als Sean John Combs 1969 im Ghetto von Harlem zur Welt kam und sich als "Puffy" oder "Puff Daddy" einen Namen machte, gründete 1993 seine eigene Plattenfirma. Er entdeckte und förderte Hip-Hop-Legenden wie The Notorious B.I.G. Nach der Ermordung von eben jenem "Biggy Smalls" startete er seine eigene Gesangskarriere – und gewann direkt mit seinem ersten Album "No Way Out" 1997 einen Grammy. Doch Diddy war immer schon mehr als "nur" ein Rapper. Er zog im Hintergrund die Strippen, war ein Ermöglicher und Türöffner für viele heute international gefeierte Superstars wie Usher oder Justin Bieber . Eine Produktionskoryphäe, ein Mentor, der wie der Pate aus dem legendären Gangsterfilm Abhängigkeiten schaffte und einen verschworenen Clan um sich scharte. Vor allem war Diddy eines: ein geschickter Geschäftsmann. Einer, der den Hip-Hop-Lifestyle in den Mainstream hievte, der aus dem als schmuddelig geltenden Genre eine Geldmaschine machte. 1998 gründete er die Modemarke Sean John, ergänzte sie um eine Parfümlinie und machte damit nicht nur Millionenumsatz, sondern wurde auch als Modeschöpfer prämiert. Später ging er eine äußerst erfolgreiche Wodka-Partnerschaft mit dem britischen Spirituosenkonglomerat Diageo ein und gründete das TV-Netzwerk Revolt. Diddy war plötzlich überall: in Film und Fernsehen, auf den Laufstegen, im Radio, auf den weltweit größten Bühnen. Als erster männlicher Rapper bekam Diddy 2008 einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Was wusste Hollywood? Während dieser Zeit will Hollywood von dem Glanz des Erfolgsrappers profitieren. Diddy macht als Mann an der Seite von Jennifer Lopez Schlagzeilen – und als Gönner im Stile des ikonischen Millionärs Jay Gatsbys, der rauschende Feste veranstaltet. Feste, die im Licht der neuen Enthüllungen Fragen aufwerfen. Denn dort versammelt sich elf Jahre lang, entweder immer am 4. Juli oder am sogenannten Labour Day im September, die gesamte Prominenz der Musik- und Filmbranche. Sie waren alle da: Hollywoodstars à la Megan Fox oder Ashton Kutcher , Sportgrößen wie LeBron James oder Popstars wie Beyoncé und Kelly Osbourne. Manche erzählen später voller Stolz davon, andere sind auf Bildern zu sehen – und bei einigen ist nicht klar, auf welchen dieser Feste sie genau waren. Denn wie bei Diddy die verschiedenen Facetten von ihm verschwimmen, so passiert das nun auch mit den Erzählungen über seine Feste. Einerseits gibt es die "White Partys", über die es schon immer Geschichten gab. Wer zu ihnen eingeladen war, galt als A-Lister, also als einer, der es in die oberste Berühmtheitsetage geschafft hat. Ekstase, Drogen, Sex: ein offenes Geheimnis. Der Rausch war ein Markenzeichen, ein Kontrastmittel zu den unschuldig in Weiß gekleideten Partygästen. "White Partys" versus "Freak-offs" Neben diesen gigantischen Sausen, die jeweils mehrere Millionen gekostet haben sollen, und bei denen neben unzähligen Promis auch Fotografen anwesend waren, gab es auch sogenannte Freak-offs. Sie gelten als exzessivere Variante, eine Art After-Show-Party ohne Tabus. Die Informationslage beginnt hier dünner zu werden. Kompromittierendes Beweismaterial, so deckte es auch der Prozess gegen Diddy auf, habe vor allem der Rapper selbst davon gesammelt. Von teils mehrtägigen Orgien ist die Rede. Ein Drogenkurier, der die Gäste mit Stoff versorgen sollte, sagte der "New York Post" vor dem Prozess: "Es passierten seltsame Dinge. Prominente Kerle, die miteinander vögelten. Es gab Hinterzimmer und es war wie das Allerheiligste. Man sah zwei Leute, von denen man nicht dachte, dass sie miteinander schlafen würden, Rapper, das hat mich schockiert." Dort sollen auch Frauen vor Ort gewesen sein, die von Handlangern angelockt wurden. Einige seien für Sex bezahlt worden, andere sollen durch Drohungen, Erpressungen oder Drogen dazu gebracht worden sein, sexuelle Handlungen durchzuführen. Ob auch Teile der Prominenz, die bei den "White Partys" ein und aus gingen, an den "Freak-offs" teilnahmen, ist unklar. Welche Rolle spielte Justin Bieber als Teenager? Dabei spielt auch der Karrierebeginn von Justin Bieber eine zentrale Rolle. Fans des Popstars sorgen sich, er könnte im Alter von nicht mal 15 Jahren mit diesen Orgien in Berührung gekommen sein. Diese Menschen fluten nach der Festnahme von P. Diddy, der Anfang der 2000er ein Mentor für Bieber war, die Kommentarspalten von Biebers Social-Media-Profilen. "Diddy ist endlich hinter Gittern, jetzt kannst du aufatmen", heißt es da oder: "Diddy kann dich nicht mehr verletzen", "dein Trauma hat ein Ende". Und weiter: "Ich hoffe, du wirst gegen Diddy aussagen." Doch Justin Bieber schweigt – so wie die Mehrheit der anderen P. Diddy-Profiteure, die dem Rapper über Jahrzehnte Loyalität erwiesen und von seinen Geschäften und Verträgen abhängig waren. Angesichts der 14-seitigen Anklageschrift gegen Diddy drängt sich die Frage auf, was die Beteiligten aus der Musik- und Filmelite gewusst haben müssen. Dem heute 55-Jährigen wurde neben Brandstiftung, Bestechung, Entführung und Behinderung der Justiz hauptsächlich eine Sache angelastet. Es war das Herzstück der Anklage: Er habe ein kriminelles "Unternehmen" erschaffen, das er als mutmaßlicher Erpresser leitete, mit dem er die "Freak-offs" koordinierte und anschließend Straftaten vertuschte. Er benötigte dafür Bedienstete, Mitwisser, Handlanger und Laufburschen, die das System am Laufen hielten. Doch genau in diesem Hauptanklagepunkt – der Bildung einer kriminellen Vereinigung – sprachen die Jury ihn nun frei. Für dieses Vergehen drohte Combs lebenslange Haft. Ist der Spuk also vorbei? "Ein Opfer musste sich mehrere Tage lang verstecken" In dem Prozess war von Horrorshows die Rede, die mit "aufwendig inszenierten sexuellen Darbietungen" einhergingen. Diddy soll die Auswüchse gefilmt und als Waffe eingesetzt haben, um zu verhindern, dass sich die Teilnehmer beschwerten. "'Freak-off'-Aktivitäten sind der Kern dieses Falles, und 'Freak-offs' sind von Natur aus gefährlich", so die Staatsanwältin Emily A. Johnson. Hotelzimmer sollen dabei verwüstet worden sein, Bedienstete von Diddy seien zu Aufräumarbeiten gezwungen worden. "Bei diesen Gelegenheiten musste sich ein Opfer manchmal mehrere Tage lang verstecken, um sich von den Verletzungen zu erholen, die Combs ihm zugefügt hatte", so die Anklage. Ob all das nur in einem Netz der Abhängigkeiten möglich war – und die prominent besetzten "White Partys" der Vorhof zur "Freak-off"-Hölle waren? Bisher verhindert die Schweigespirale der Diddy-Günstlinge und -Jünger einen tieferen Einblick. Doch das Kartenhaus hat Risse bekommen – wenn es nicht ohnehin längst eingestürzt ist, weil dem Rapper trotz des Teilfreispruchs eine mehrjährige Haftstrafe droht. Es gibt ein Video von P. Diddy, das 25 Jahre vor seiner Verhaftung aufgenommen wurde. In der US-Sendung "Entertainment Tonight" prophezeit er 1999, ein Jahr nach dem Start seiner "White Partys", dass er eines Tages für seine Gelage zur Rechenschaft gezogen wird. "Sie werden mir nicht einmal mehr eine Genehmigung für die Partys geben. Sie wollen nicht mehr, dass ich die Partys schmeiße, aber wir werden nicht aufhören", so Diddy und weiter: "Sie werden sie abblasen. Sie werden mich wahrscheinlich verhaften und alle möglichen verrückten Dinge tun, nur weil wir eine gute Zeit haben wollen." Jetzt ist der Prozess gegen Sean Combs beendet, doch ein genaues Urteil steht noch aus. Der Mann, der vom Gangsterrapper aus Harlem und vom Partymogul der Hollywoodprominenz zum Angeklagten wurde, könnte für viele Jahre weggesperrt werden. Ein Mann mit vielen Gesichtern – und offenbar ebenso vielen Geheimnissen.