Normen sind unsichtbare Leitplanken, die unseren Alltag und die Wirtschaft bestimmen. DIN-Vorstandsvorsitzender Christoph Winterhalter erklärt, wie China massiven Druck auf das System ausübt. In Berlin-Charlottenburg am DIN-Platz sitzt ein Institut, das Standards setzt. Seit 1917 prägt das Deutsche Institut für Normung (DIN) technische Standards. Diese berühren fast alle Bereiche unseres Lebens und der Umwelt. Vom Format eines Blattes Papier bis hin zu Sicherheitsanforderungen für Industrieroboter – für alles gibt es eine DIN-Norm, die von Zehntausenden Experten fortwährend weiterentwickelt wird. Gleichzeitig ist das DIN weit mehr als ein nationales Normungsinstitut. Es agiert in internationalen Gremien, setzt Standards mit globaler Reichweite und wirkt dabei an der geopolitischen Ordnung mit. Denn im internationalen Wettstreit um technologische Vormachtstellungen spielt die Normung eine zunehmend strategische Rolle – und Deutschland mischt dabei vorn mit. Christoph Winterhalter ist Chef des Instituts und erklärt im Gespräch mit t-online, wie Normen überhaupt zustande kommen und warum Europa eine gemeinsame Normungsstrategie gegen China benötigt. Nordostpassage : China schickt Frachter auf Rekordfahrt nach Europa "Echtes Problem" für Putin : Wie Xi Russlands Öl-Dilemma für sich nutzt t-online: Herr Winterhalter, viele Menschen wissen gar nicht genau, was das Deutsche Institut für Normung eigentlich macht. Können Sie erklären, wo uns Normen im Alltag begegnen? Christoph Winterhalter : Ein ganz simples Beispiel ist die Zahnbürste: Es gibt eine Norm, die festlegt, mit welcher Kraft die Borsten im Zahnbürstenkopf verankert sein müssen, damit sie nicht zwischen den Zähnen stecken bleiben. Schnuller haben eine genormte Größe, damit Babys sie nicht verschlucken können. Die Stufenhöhe von Treppen ist genormt, damit Menschen auch blind heruntergehen können, zumindest mittlerweile. Wenn Sie jedoch in eine alte Ritterburg gehen, sind die Treppen dort natürlich nicht genormt. Das offensichtlichste Beispiel ist aber das DIN-A4-Papier: Diese Norm gibt es seit 1922 und sie sorgt heute dafür, dass Papier in jeden Drucker passt. Und das alles regelt das DIN-Institut? Nein, das ist ein Missverständnis. Wir als DIN schreiben keine Normen selbst, sondern organisieren nur den Prozess. Wir bringen Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammen, die gemeinsam die Standards erarbeiten. Unsere Rolle ist die Moderation und das Projektmanagement. Wie sieht dieser Prozess konkret aus? Grundsätzlich kann jeder, der eine Idee für eine Norm hat, diese einbringen. Nach Prüfung wird das Vorhaben einem der rund 4.000 Gremien hier im Haus zugeordnet, in denen die insgesamt rund 40.000 Expertinnen und Experten bei DIN arbeiten. Der Prozess ist öffentlich und jeder Interessierte kann Kommentare einbringen. Erst, wenn alle Einsprüche behandelt wurden, wird die Norm veröffentlicht. Und wie viele sind das aktuell? Insgesamt haben wir einen Bestand von etwa 35.000 Normen. Pro Jahr kommen rund 150 neue hinzu, doch etwa genauso viele werden wieder zurückgezogen. Unsere Hauptaufgabe besteht jedoch darin, jährlich ungefähr 2.000 bestehende Normen zu aktualisieren und die jeweiligen Dokumente zu überarbeiten, weil sich Technik oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern. Normen müssen relevant, aktuell und praxisnah sein – sonst ziehen wir sie zurück. Unser Interesse sind nicht möglichst viele Normen. Sondern die richtigen. Verlangsamt diese riesige Normensammlung nicht die deutsche Wirtschaft? Nein, im Gegenteil. Normen helfen der Wirtschaft, weil sie Komplexität reduzieren. Wenn sich Unternehmen auf gemeinsame Standards einigen, sparen sie sich aufwendige Absprachen und Einzelprüfungen. Statt in jedem Vertrag alles neu festzulegen, reicht der Verweis auf eine Norm. Standards können somit auch genutzt werden, um den bürokratischen Aufwand zu reduzieren, etwa bei Berichtspflichten. Wie das? Aktuell schreibt die Politik oft im Detail vor, wie Unternehmen ihre Berichte erstellen müssen, in welchem Format, an welche Behörde – teils doppelt und dreifach. Wenn stattdessen alle Unternehmen ihre Daten gleich strukturieren, speichern und digital zugänglich machen würden, das heißt standardisierte Datenmodelle nutzen, reduziert sich der Berichtsaufwand auf ein Minimum. Die Baubranche hat sie heftig wegen eines Normentwurfs kritisiert. Immobilienbesitzer klagten, dass die DIN 94681 mehr Bürokratie bedeuten würde. Der sogenannte Gebäude-TÜV ließ auch viele Mieter höhere Kosten befürchten. Es war meiner Meinung nach richtig, diesen Entwurf wieder zurückzuziehen. Die Idee der Experten im Gremium war ursprünglich, eine Vielzahl bestehender Empfehlungen zur Verkehrssicherung von Gebäuden zusammenzuführen. Daraus sollte ein praktischer Leitfaden für Immobilienverwalter entstehen. Der Begriff "Gebäude-TÜV" kam nicht von uns, sondern wurde durch die Berichterstattung insbesondere in den Boulevard-Medien geprägt. Dort wurde suggeriert, es gehe um Pflicht und Kontrolle. Und das stimmt nicht? Das war nie die Intention des Projekts. Aber eine öffentliche Diskussion über die Inhalte einer Norm ist fester Bestandteil unserer Prozesse. Und diese Kritik kann natürlich auch über die Medien kommen. So funktioniert der Normungsprozess: ohne Konsens, keine Norm. Und in diesem Fall war der Widerstand von Teilen der Betroffenen zu groß. Könnten Sie mehr Normen abbauen, um den Wohnungsbau zu vereinfachen? Normen entstehen im Konsens, das heißt, sie sind immer auch gesellschaftliche Kompromisse. In den vergangenen Jahren war die vorherrschende Meinung: Lieber etwas mehr Schallschutz, mehr Sicherheit, mehr Komfort – das ist uns als Gesellschaft wichtig. Denn durch die Niedrigzinsphase war die Finanzierung günstig, der Immobilienwert stieg, hohe Qualitätsanforderungen waren verkraftbar und finanzierbar. Doch diese Rahmenbedingungen haben sich geändert: Die Baukosten steigen, die Zinsen sind hoch, gleichzeitig stagnieren die Immobilienpreise. Was bedeutet das? Wenn wir weiterhin nach denselben Standards bauen wie in den Boomjahren, kostet das Geld – vielleicht zu viel. Daher müssen wir öffentlich darüber diskutieren, ob wir andere Kompromisse eingehen wollen. Weniger Schallschutz? Weniger Nachhaltigkeit? Andere Anforderungen im sozialen Wohnungsbau? Es geht letztendlich darum, wie wichtig uns Wohnqualität ist und zu welchem Preis. Diese Debatte muss in Politik und Gesellschaft geführt werden und wird sich dann auch in unseren Normen widerspiegeln. Welchen Einfluss haben internationale Standards auf Deutschland? Mehr als 80 Prozent des deutschen Normenwerks sind europäische oder internationale Standards. Wir sind Mitglied der Internationalen Organisation für Normung (ISO) und des Europäischen Komitees für Normung (CEN) und vertreten dort die deutsche Meinung. Und die ist wichtig. In etwa 17 Prozent aller ISO-Normungsgremien und 29 Prozent der europäischen Gremien stellen wir das Sekretariat, das heißt, wir übernehmen das Projektmanagement. Das ist weit mehr, als unser wirtschaftlicher Anteil an der Weltwirtschaft vermuten ließe. Wir haben früh angefangen und viel investiert. Das ist eine wichtige Grundlage, warum Deutschland auch bis heute Exportweltmeister ist. In einem Bericht an die Europäische Kommission erklärt der Politologe Tim Rühlig, "das Setzen internationaler Standards ist zu einem Schlachtfeld im Kampf um die Dominanz im Hightech-Sektor geworden". Stimmen Sie zu? Ja. Und in diesem Kampf holt insbesondere China derzeit rasant auf. Die Volksrepublik hat sich das Ziel gesetzt, bis 2035 in allen Hochtechnologiebereichen Weltmarktführer zu sein. Die Normung ist Teil dieser Strategie. Denn die Chinesen haben verstanden, dass man über Standards Regeln für die Märkte setzen kann. Der Staat entsendet deshalb Expertinnen und Experten in großer Zahl in alle für sie strategisch wichtigen Gremien. Sie bewerben sich um viele Projekt- und Gremienführungen und schlagen dann dort Pflöcke ein. Was ist daran problematisch? Ich sehe darin eine Herausforderung für die deutsche Wirtschaft. Denn so könnte mehr und mehr die chinesische Vorstellung, wie insbesondere digitale Technologien genutzt werden, zum neuen Status quo werden. Dabei vertritt die Volksrepublik eine andere Staatsphilosophie und damit andere Werte. Etwa beim Datenschutz: Der chinesische Staat hat dort viel größere Zugriffsmöglichkeiten, zum Beispiel bei der Datennutzung durch KI . In Europa setzen wir andere Prioritäten. Was sollten wir tun? Die Gefahr ist in Europa und Deutschland durchaus erkannt. Normung ist ein wichtiges Thema in Berlin und Brüssel . Allerdings fehlt uns noch ein klarer Plan, wie konkret wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen wollen. China hat uns gegenüber einen klaren Vorteil: Der Staat orchestriert und entsendet in vielen Themenbereichen die Fachleute und finanziert sie, das sind hoch ausgebildete Expertinnen und Experten in ihren Feldern. In Deutschland ist die Normung privatwirtschaftlich organisiert. Das heißt: Unternehmen müssen die Kosten für die Bereitstellung ihrer Mitarbeiter selbst tragen. Wirtschaft, Verbände und Politik müssen gemeinsam diskutieren, was unsere wichtigsten Technologiefelder für die Zukunft sind. In diesen Bereichen sollten wir die Arbeit unserer eigenen Experten zukünftig deutlich stärker unterstützen. Wie tritt die Volksrepublik in den internationalen Gremien auf? China agiert nicht unfair, sondern sehr strategisch. In ihren Fünfjahresplänen steht genau, welche Technologien sie priorisieren und welche Ziele sie anstreben. Bei den traditionellen Gremien laufen die chinesischen Fachleute eher mit, aber wenn es um Quantencomputer, Mobilfunk oder GreenTech geht, sind sie früh dabei und haben einen Führungsanspruch. Leitete China noch vor wenigen Jahren weniger als 2 Prozent der Gremien, sind es heute schon 11 Prozent. Da verschiebt sich etwas, obwohl wir bisher in Deutschland in der Lage waren, unseren starken Anteil von etwa 17 Prozent zu behalten. Die USA unter Präsident Donald Trump befinden sich in einem Handelskonflikt mit China und Europa. Können die Vertreter der Länder noch am selben Tisch sitzen, um gemeinsame Standards zu entwickeln? Ja, das ist das Schöne daran. Natürlich gibt es unterschiedliche Interessen, aber am Ende finden die meisten Gremien einen Konsens. Das ist die eigentliche Kunst: Alle sitzen an einem Tisch, hören einander zu und suchen nach einer tragfähigen Lösung. Wer nur seine Maximalforderung durchsetzen will, wird scheitern. Selbst in politisch angespannten Zeiten wie heute arbeiten die Expertinnen und Experten fachlich zusammen. Dort sitzen aber auch keine Politiker, sondern Techniker. Die wollen meist, dass am Ende etwas herauskommt, das für alle funktioniert. Und wenn das nicht klappt? Ohne weltweit akzeptierte Standards leidet der internationale Wettbewerb. Das können Länder wie China zu ihrem Vorteil nutzen. Mit ihren Infrastruktur-Großprojekten exportiert die Volksrepublik bei fehlenden internationalen Standards die eigenen, chinesischen Standards, beispielsweise in asiatische und afrikanische Länder. Dort leistet die Volksrepublik Entwicklungshilfe und finanziert Infrastruktur, die dann von chinesischen Firmen nach chinesischen Standards aufgebaut wird. Somit ist man auch langfristig von chinesischer Technologie abhängig und mögliche Folgeaufträge gehen dann natürlich auch wiederum an chinesische Firmen. Wie kann Europa dagegenhalten? Es ist wichtig, dass wir uns auf internationale Standards einigen. Dann haben wir ein offenes Spielfeld, auf dem alle mitspielen können. Ich bin aber zuversichtlich, denn die Chinesen sind pragmatisch. Sie wollen auch in den Westen exportieren und haben deshalb ein Interesse, dass wir uns in den Gremien einig werden. Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Haben Sie eine Lieblingsnorm? Ja, tatsächlich: Das ist die DIN EN ISO 10218, die sich mit der Sicherheit von Industrierobotern in Produktionsumgebungen befasst. Ich habe vor meiner Zeit bei DIN selbst Roboter entwickelt und hatte viel mit der Norm zu tun. Früher mussten noch Schutzzäune um Roboter gebaut werden. Heute ist es auch möglich, ohne mechanische Schutzzäune direkt mit Robotern zusammenzuarbeiten, weil die Roboter so ausgelegt sind, dass sie keine Verletzungen verursachen, selbst wenn sie mit einem Menschen zusammenstoßen sollten.