Jahrelang galten Deutschland und Frankreich als Wirtschaftsmotoren der EU. Doch derzeit stottern sie gewaltig. Ganz anders stellt sich die Lage hingegen in Südeuropa dar. Das europäische Gleichgewicht kommt ins Wanken: Die einstigen engen Partner und wirtschaftlichen Schwergewichte Frankreich und Deutschland stehen jeweils vor zerrütteten Regierungen. Stein des Anstoßes waren in beiden Fällen erbitterte Streits über den Haushalt und Fragen der Staatsverschuldung. Bei den einstigen Sorgenkindern der Finanzkrise sieht es derweil deutlich besser aus. Portugal , Italien , Griechenland und Spanien konnten bereits in den vergangenen Jahren ein deutlich stärkeres Wirtschaftswachstum verzeichnen. Auch die Prognosen für das Jahr 2025 fallen höher aus. So rechnet die Europäische Kommission mit einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts für Deutschland und Frankreich um jeweils 0,8 Prozent bis zum Herbst 2025. Auch für Italien wird ein solcher Anstieg erwartet. Für Portugal hingegen geht die Kommission von 1,9 Prozent, für Spanien und Griechenland von jeweils 2,3 Prozent Wachstum aus. Schlechte Stimmung und verhaltene Aussichten Die schwierige Wirtschaftslage in Deutschland ist längst nicht mehr nur aus den Einzelklagen von Unternehmern abzulesen. Große Konzerne wie VW und Thyssenkrupp haben in den vergangenen Wochen angekündigt, Stellen kürzen und Werke schließen zu wollen. Der Ifo-Geschäftsklimaindex, für den monatlich Tausende Unternehmer befragt werden, ist zum sechsten Mal in Folge gesunken . Die Stimmung in der Wirtschaft ist demnach so schlecht wie seit 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr. Wirtschaftsforschungsinstitute korrigieren unterdessen zum wiederholten Male ihre Prognosen nach unten. Die Ampelkoalition ist letztlich auch daran zerbrochen, wie gravierend die einzelnen Parteien die Lage eingeschätzt hatten. Und dem Streit darüber, mit welchen Maßnahmen – und vor allem, ob unter Aufnahme neuer Schulden – die Wirtschaft gestärkt werden sollte. Auch in Frankreich scheiterte die Regierung von Ministerpräsident Michel Barnier letztlich am Umgang mit den Staatsschulden. Er wollte das Staatsdefizit von 6,1 auf 5,0 Prozent kürzen. Die europäischen Schuldenregeln sehen eigentlich eine Obergrenze von drei Prozent vor. Als Staatsdefizit wird der Betrag bezeichnet, um den die staatlichen Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Dies herunterzusetzen, würde der französischen Regierung weniger Spielraum für neue Schulden geben. Doch sowohl von links als auch von rechts kam heftige Kritik, die letztlich in einem Misstrauensvotum endete. Mehr dazu lesen Sie hier. Mitte Dezember führte diese Gemengelage gar dazu, dass Deutschland und Frankreich kurzzeitig höhere Zinsen für ihre Schulden zahlen mussten als Griechenland. Und das könnte erst der Anfang sein. Immerhin hat die Ratingagentur Moody's Frankreichs Kreditwürdigkeit in der vergangenen Woche von Aa2 auf Aa3 abgesenkt, da sie davon ausgeht, dass die öffentlichen Finanzen des Landes im kommenden Jahr erheblich geschwächt sein würden. Eine solche Bewertung bedeutet normalerweise, dass die Schuldenaufnahme teurer wird. Alles steht und fällt mit dem Tourismus Diese Episode zeigt deutlich: In Europa verschiebt sich das wirtschaftliche Kräfteverhältnis. Die Sorgenkinder im Süden genießen derzeit größeres Vertrauen von Banken und Investoren und blicken optimistischer in ihre Zukunft. Gründe für die Entwicklung gibt es mehrere. Deutschland und Frankreich sind vor allem deshalb überrascht, da beide Länder es zuletzt gewohnt waren, glimpflich aus Krisen hervorzugehen. Das war bei der Finanzkrise 2008 der Fall und sah auch nach der Corona-Pandemie zunächst so aus. Die stark vom Tourismus abhängigen südeuropäischen Länder litten damals besonders stark und erholten sich auch deutlich langsamer. Italien etwa blieb mehr als ein Jahrzehnt hinter dem europäischen Durchschnittswachstum zurück. Die verordneten Sparprogramme auf Drängen der Geldgeber – und der EU – für Griechenland und die darauffolgenden heftigen Proteste sind vielen bis heute im Gedächtnis geblieben. Entsprechend half vorrangig die Wiederbelebung des Tourismussektors. Als eine der wenigen Regionen weltweit haben Spanien und Griechenland mittlerweile wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Reformen wirken Die Reformen taten ihr Übriges für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kam in einer Untersuchung bereits 2022 zu dem Schluss, dass sich die griechische Teilnahme am Programm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (EMS) ausgezahlt habe. So wurden unter anderem die Verwaltung effizienter gestaltet, das Insolvenzrecht geändert, Steuern konsequenter eingetrieben und die Schwarzarbeit bekämpft. Der EMS war in Reaktion auf die Finanzkrise als zwischenstaatliche Organisation gegründet worden, die überschuldete Mitgliedsstaaten durch Bürgschaften und Kredite unterstützt, um so die Zahlungsfähigkeit zu erhalten. Darüber hinaus profitierte Südeuropa deutlich vom rund 800 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU. Der Chefvolkswirt für die Eurozone der niederländischen Großbank ING, Carsten Brzeski, sagte der "Welt" dazu: "Die Südeuropäer haben das Konjunkturprogramm viel ernster genommen als wohlhabendere Länder." Sie hätten die ambitionierten Reformen umgesetzt, die Brüssel im Gegenzug für das Geld verlangt hat, "und sie hatten genaue Vorstellungen, wie sie mit dem Geld die Strukturreformen unterstützen", so Brzeski. Ein weiterer wichtiger Faktor, der sich zum Vorteil südeuropäischer Länder und zum deutschen Nachteil erwies, ist Energie. Deutschland musste sich nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine in kurzer Zeit von seinem Hauptlieferanten für Öl und Gas trennen. Dieser Prozess war vor allem mit hohen Kosten, aber auch großer Verunsicherung verbunden. Da kurzfristig alternative Händler gefunden werden mussten, kaufte Deutschland zeitweise zu deutlich höheren Preisen ein. Zudem gab es die Sorge, dass der Energiebedarf entweder aus Kostengründen oder gar aus Lieferengpässen nicht gedeckt werden können. Zeitweise wurde hitzig über die Abschaltungsreihenfolge bei Unternehmen diskutiert. Gerade in der Industrie führte das zu Problemen. In Südeuropa spielt der Industriesektor hingegen eine deutlich kleinere Rolle. Der Anteil russischer Energieträger an ihrem Energiemix fiel geringer aus. Auch langfristig könnten Griechenland, Spanien, Portugal und Italien beim Thema Energiepreise Vorteile haben. Durch viel Sonne und Wind in den Küstenregionen haben die Staaten bei der Energiewende einen klaren Vorteil. Wie groß wird die Krise? Was bedeutet diese Entwicklung nun für Europa? Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick, betont zwar: "Eine neue Euro-Krise droht aktuell nicht." Die Krise unterstreiche aber die politische Instabilität, mit der Europa umgehen müsse. "Die Unsicherheit über zentrale Fragen der Haushalts- und Handelspolitik belastet die europäische Wirtschaft", so Schularick. Ähnlich schätzt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank, die Lage ein. "Die Marktteilnehmer runzeln die Stirn über Frankreich, wenden sich aber nicht ab", sagt er. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass sie die Lage insgesamt anders darstellt als nach der Finanzkrise. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwartet in Frankreich in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent. Für Deutschland wird lediglich eine Stagnation prognostiziert. Die Zinsen, die Frankreich an den Kapitalmärkten bezahlen muss, sind immer noch deutlich niedriger als in Griechenland zur Zeit der Eurokrise. Und es waren gerade die teuren Zinsen, die damals die Krise befeuerten und das ohnehin angeschlagene Griechenland schwer belasteten. Es werden also einige sicher geglaubte Gewissheiten erschüttert. Aber trotz positiverer Wachstumsaussichten sind Spanien, Griechenland, Portugal und Italien noch nicht auf dem Weg dahin, die Wirtschaftsleistungen von Deutschland und Frankreich zu überholen. Denn während das deutsche Bruttoinlandsprodukt bei 4,45 Billionen Euro und das französische bei 3,03 Billionen Euro lag, verzeichnet Italien als größte der vier südeuropäischen Volkswirtschaften 2,25 Billionen.