Boxen: Als Fury das Urteil hört, schaut er die Punktrichter ungläubig an

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Der Rückkampf zwischen Tyson Fury und Oleksandr Usyk hatte alles, was einen guten Schwergewichtsfight ausmacht. Das Urteil der Ringrichter sorgte allerdings für Wirbel. Manchmal hilft es ja, auf die nackten Zahlen zu schauen. Da standen am Ende des Rückkampfes zwischen Tyson Fury und Oleksandr Usyk vor allem zwei Zahlen: 116 und 112. So hatten die Punktrichter in der Kingdom Arena in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad den Kampf gewertet. Ein eindeutiges Urteil. Tyson Fury mochte es nicht glauben. Er hatte unmittelbar nach dem Schlussgong die Arme hochgerissen, wähnte sich als Sieger des Duells. Doch als Michael Buffer das Urteil vorlas und Usyk als alten und neuen Champion auswies, verfinsterte sich Furys Miene. Ungläubig schaute er in Richtung der Punktrichter. Er konnte es nicht fassen. Alle drei Punktrichter werteten das Duell der beiden Schwergewichtsboxer für Usyk. Ihrer Meinung nach war der Ukrainer seinem britischen Herausforderer in acht von zwölf Runden überlegen gewesen. Das kann man durchaus als Überraschung werten. Denn zum einen gibt es derart deutliche Urteile auf diesem Niveau eher selten. Zum anderen war der Kampf enger, als es das Urteil vermuten lässt. Zahlreiche Beobachter am Ring und Experten an den Bildschirmen, wie etwa der ehemalige Schwergewichtsweltmeister Anthony Joshua , sahen das Duell auf Messers Schneide. Joshua hatte Usyk am Ende mit zwei Runden vorn. Usyk hatte das offenbar genauso erwartet Auch der mächtige Box-Promoter Eddie Hearn sagte, er habe Fury als Sieger gesehen, schließlich habe der 36-Jährige diesmal viel aktiver geboxt als noch im ersten Kampf an gleicher Stelle im Mai. Fury sei dem Ukrainer permanent auf die Pelle gerückt und habe den Titelverteidiger mächtig unter Druck gesetzt, sagte Hearn. Doch das war nur die eine Version der Geschichte. Denn in der Tat hatte Fury dieses Mal ein anderes Gesicht gezeigt. War nicht nur äußerlich verwandelt, mit langem Rauschebart und 25 Kilogramm schwerer als Usyk betrat er den Ring. Die für ihn üblichen Hampeleien sparte er sich. Stattdessen kämpfte er fokussiert, wirkte konditionell stark verbessert und setzte Usyk immer wieder mit Haken und Uppercuts zu. Das Problem war: Usyk hatte diese Anpassungen offenbar genauso erwartet. Er schien den Matchplan von Furys Trainerteam geahnt zu haben. Wie Quecksilber flirrte er durch den Ring, wich den Schlägen Furys mit seiner unglaublich geschmeidigen Fußarbeit aus und entnervte den halben Kopf größeren Briten mit blitzschnellen Meidbewegungen. Wenn Fury mal traf, schüttelte Usyk die Treffer locker ab, wie lästige Fliegen. Das muss für Fury frustrierend gewesen sein Und so vermochte der alte und neue Weltmeister etwas Außergewöhnliches: Er ließ es nicht nur so aussehen, als ob er der physisch Überlegene sei, er agierte auch so, als sei er der Herausforderer – nicht sein Gegenüber. Es war ein Rollentausch auf offener Bühne. Usyk demonstrierte, warum er auch "der Magier" genannt wird: Der Ukrainer stibitzt sich aus jeder noch so kritischen Situation wie von Zauberhand heraus. Jedes Mal, wenn Fury einen guten Moment hatte, ließ der 37 Jahre alte Ukrainer eine passende Antwort folgen. Für Fury muss das frustrierend gewesen sein. Sein Trainer, Sugar Ray Steward, ahnte wohl schon, was kommen würde, als er seinem Schützling in der Ringpause der vorletzten Runde mit auf den Weg gab. "Du musst dir das Ding jetzt holen. Nicht morgen. Heute! Jetzt!". Doch da war es schon zu spät. Die Punktrichter sahen Usyk in diesem Moment bereits weit in Führung. Daran änderte sich auch in der zwölften und letzten Runde dieses hochklassigen, aber unspektakulären Gefechts nichts mehr. Usyk hatte alles unter Kontrolle. Er gewann den engen Kampf souverän. Ein Widerspruch. Aber nicht für Usyk. Der Herausforderer verließ sofort die Halle Vielleicht stimmt es, was der Mann, der sagenhafte 350 Amateurkämpfe absolviert hatte, bevor er ins Profigeschäft einstieg, über sich selbst sagt: "Ich bin als Tänzer wesentlich besser, als ich als Boxer bin." Was kurios klingt, ergibt durchaus Sinn. Usyk tanzt im Ring beständig auf der Rasierklinge, er nimmt es mit körperlich überlegenen Gegnern auf, legt sie sich taktisch brillant zurecht, kann viel einstecken und boxt sie am Ende klassisch aus. Wohl niemand vermag dieses Spiel mit dem Risiko so gut wie er. Ausgenommen vielleicht Muhammad Ali. Fury verließ nach dem für ihn enttäuschenden Urteil sofort die Halle. Ausgerechnet er, sonst nie um einen steilen Satz verlegen, ergriff die Flucht. Nicht mal zum Ringinterview mochte er noch antreten. Wie es nun für ihn weitergeht, ist offen. Sein Promoter, Frank Warren, zeigte sich tief enttäuscht vom Ausgang des Kampfes. Eigentlich hatte das Fury-Lager fest mit einem dritten Kampf gerechnet. Doch der ist mehr als fraglich. Noch im Ring betrat Schwergewichtskonkurrent Daniel Dubois die Bühne und forderte Usyk mit großspuriger Geste zum Duell auf. Der antwortete trocken: "Kein Problem." Fury will dagegen erstmal zurück zu seiner Familie. Der ehemalige Weltmeister hatte sich so hart wie noch nie auf einen Kampf vorbereitet, wie er unter anderem dem "The Guardian" erzählte. Sein Trainingslager auf Malta habe aus nichts anderem als Training, Boxen und Essen bestanden. Einmal in der Woche sei er mit seinem Bruder aus dem Camp verschwunden. Und zwar sonntags, um in die Kirche zu gehen. Ein Tänzer auf dem Boxthron Der 2,06 Meter große Hüne gilt als gottesfürchtig. Vor seinen Gegnern hatte er bislang jedoch nie Angst. Fury hat die Schwergewichtsszene nicht wegen seiner brillanten Technik jahrelang dominiert, sondern durch sein hemdsärmeliges Auftreten. Seine Kontrahenten zog er regelmäßig durch den Kakao, verspottete sie sogar noch im Ring, hampelte zwischen den Seilen herum, ließ die Gegner ins Leere schlagen und wenn sie sich dann müde geboxt hatten, schlug er zu. Auf die Art holte er Titel um Titel. Lange schien es, dass niemand diesem Hünen aus dem fahrenden Volk etwas anhaben konnte. Dann kam Usyk. Wie vergeblich die Bemühungen des Briten waren, zeigt auch ein die Schlagstatistik. Fury schleuderte dem Titelverteidiger insgesamt 509 Fäuste entgegen. Doch davon trafen nur 144, eine Quote von 28 Prozent. Der Ukraine schlug wesentlich effektiver. Von 423 fanden 179 ihr Ziel. Das sind 42 Prozent. So eindeutig wie die Schlagstatistik fiel am Ende auch das Urteil der Punktrichter aus. Für den 36 Jahre alten Fury scheint die Zeit der Dominanz im Schwergewicht des Boxens nun vorbei zu sein. Der "Gypsy King" musste das Zepter im Königreich Saudi-Arabien wohl endgültig abgeben. Auf dem Thron sitzt jetzt ein anderer. Der begnadete Tänzer Oleksandr Usyk.
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