Digitalisierung: Die digitale Gefahr bedroht nicht nur die Jugend

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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, beim Abendbrot bin ich mal wieder in die Falle getappt. Das Handy in der Hosentasche vibrierte. Nicht das eines meiner Söhne, sondern mein eigenes. Reflexartig zog ich es hervor, schaute darauf und wollte schon auf die Nachricht eines Kollegen antworten, als mein Jüngster höhnisch meinte: "So viel zum Thema Handyverbot beim Abendessen." Schuldbewusst ließ ich das Gerät wieder in der Hosentasche verschwinden, murmelte: "Ist was Wichtiges, aber du hast recht" und versuchte, unauffällig da anzuknüpfen, wo der Gesprächsfaden gerissen war. Gelang mir nur mäßig gut. Handyverbote an Schulen, Altersbegrenzung für Social Media – mit Verve wird gerade darüber diskutiert, wie die Jugend besser vor den Gefahren der Digitalisierung geschützt werden kann. Wer diese aber wirklich bekämpfen will, der sollte sich endlich einer Lebenslüge stellen: Nicht nur Kinder und Jugendliche nutzen digitale Geräte exzessiv. Auch die allermeisten Erwachsenen tun es. Wer glaubt, sie seien besser gewappnet, um dem süchtig machenden Sog der Algorithmen oder den Versuchungen der ständigen Erreichbarkeit zu widerstehen, der irrt. Ich bin mir sicher, nicht nur ich verstoße regelmäßig gegen selbst auferlegte Familienregeln wie der, am Esstisch keine digitalen Geräte zu benutzen. Es stimmt, die Entwicklung ist alarmierend: Psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen haben massiv zugenommen. Mehr als ein Fünftel von ihnen ist psychisch auffällig. Während Mädchen häufiger an Essstörungen und Depressionen leiden, sind Jungen öfter spielsüchtig. Die Digitalisierung hat daran einen erheblichen Anteil, wie zahlreiche Studien belegen. Rund 1,3 Millionen Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren nutzen digitale Medien in riskantem oder krankhaftem Maße. Das hat auch volkswirtschaftliche Folgen. Darauf wies das Deutsche Institut der Wirtschaft (IW) in der vergangenen Woche zusammen mit der Bundesschülerkonferenz hin. Wer in der Jugend psychisch erkrankt, wird darunter oft sein Leben lang leiden. Psychische Beeinträchtigungen sind eine wesentliche Ursache für Schul- und Studienabbrüche; rund zwei Drittel der unter 30-Jährigen, die Erwerbsminderungsrenten beziehen, sind psychisch erkrankt. Das IW und die Bundesschülerkonferenz fordern daher unter anderem eine bessere medizinische Versorgung, denn Therapieplätze sind Mangelware. Sie plädieren aber auch für eine Bildungspolitik , die Medienkompetenz endlich eine zentrale Rolle zuweist. Tatsächlich findet in zu vielen Schulen lediglich mal ein Medienprojekt statt oder wird ein Jahr lang Medienkompetenz auch mal am Rande des Informatikunterrichts angerissen. So ist es auch auf der Schule meines jüngeren Sohnes. Systematische, aufeinander aufbauende Lerninhalte sucht man dagegen dort wie vielerorts vergebens. Lediglich in Baden-Württemberg wird seit diesem Schuljahr das Pflichtfach "Informatik und Medienbildung" ab der 5. bis zur 10. beziehungsweise 11. Klasse durchgehend unterrichtet. 30 Jahre, nachdem die Digitalisierung massentauglich wurde, zeugt das von einer fahrlässigen Ignoranz für die epochale Bedeutung der Technologie, ihre Chancen, aber auch Risiken. Und diese Ignoranz ist ein Problem nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene, die zudem die Verantwortung für diese Ignoranz tragen. Auch sie sind von der ständigen Erreichbarkeit überfordert. Auch sie leiden zunehmend unter Schlafstörungen, Ängsten, Depressionen, Bewegungsmangel. Nicht immer liegt das am übermäßigen Gebrauch digitaler Medien, aber sehr oft. Und auch die gesellschaftlichen Folgen sind längst spürbar: Viele Menschen bewegen sich fast nur noch in den eigenen digitalen Echokammern, die Polarisierung der Gesellschaft schreitet voran. Man sollte meinen, es gebe in der Geschichte genügend Beispiele dafür, wie die Menschheit lernte, mit den Risiken revolutionärer Technologien umzugehen. Warum nur wendet sie die Erfahrungen nicht auch bei der Digitalisierung an? Niemand würde einem Sechs- oder Zwölfjährigen ein Auto zum Geburtstag schenken und das Kind dann einfach damit fahren lassen. Es ist ein Gerät für Erwachsene. Um es nutzen zu dürfen, muss man volljährig sein und nachweisen, das Fahrzeug nicht nur technisch zu beherrschen, also fahren zu können, sondern auch die Straßenverkehrsregeln zu kennen und zu beachten. Kindern hingegen wird ein Gerät für Erwachsene in die Hand gedrückt, für das es weder angemessene Regeln noch eine Kontrolle derselben gibt und mit dem selbst viele Erwachsene nicht angemessen umgehen können. Beim Auto war es damals so : Der erste deutschlandweit gültige Führerschein wurde 1903 eingeführt, weniger als 20 Jahre nach der Erfindung des Automobils und weniger als zehn Jahre, nachdem das erste Auto in eine Art Serienproduktion gegangen war. Die ersten Verkehrsregeln folgten sechs Jahre später, eine umfassende Straßenverkehrsordnung, wie wir sie heute kennen, erst knapp 30 Jahre später. Es ist also höchste Zeit für verpflichtende digitale Regeln und ihre konsequente Durchsetzung. Das gilt für das Internet und dort agierende Plattformen genauso wie für den täglichen Gebrauch digitaler Geräte. Wenn ich bei einer politischen Zauberfee ein paar Wünsche freihätte, dann wären es daher diese: In Europa nicht nur strenge Regeln für digitale Plattformen , wie sie etwa der europäische Digital Services Act vorsieht, sondern auch ihre konsequente und zeitnahe Umsetzung. Denn daran hapert es bislang vor allem . In Deutschland in allen Bundesländern ein Schulfach wie in Baden-Württemberg, das mindestens ab der 5. Klasse Kindern nicht nur die notwendigen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Geräten, der Hard- wie der Software vermittelt. Sondern das auch die sozialen und politischen Folgen digitaler Medien beleuchtet, erklärt, wo Gefahren lauern und wie man sich davor schützt. Zugleich ein viel größeres Angebot an niedrigschwelliger Medienbildung für Erwachsene : etwa in Betrieben, an Volkshochschulen, in öffentlichen Bibliotheken, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und was spricht eigentlich gegen einen Handyführerschein für Erwachsene ? Vorzulegen beim Kauf eines Smartphones. Oder gegen handy- und bildschirmfreie Zeiten für Erwachsene? Was gegen mehr handyfreie Zonen? Gut, d er Staat ist keine Zauberfee und kann nicht alles richten. Aber bei den ersten drei Punkten hat er nicht nur Potenzial, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung . Wird sie ernst genommen, funktioniert sie auch, bestes Beispiel: Im Jahr 1970 war die Zahl der Verkehrstoten auf einem Höchststand von fast 20.000 im Jahr . Danach wurden Tempolimits auf Landstraßen und in Ortschaften, Promillegrenzen, eine Gurtpflicht und eine verbindliche Verkehrserziehung in der Grundschule eingeführt. Seitdem sank die Zahl der Toten auf unter 3.000 im Jahr. Was für eine Erfolgsgeschichte! Verantwortung hat aber nicht nur der Staat. Jede und jeder ist gefragt. Ich hab schon mal angefangen und nach dem Essen mit meiner Familie eine neue Regel vereinbart: keine digitalen Geräte mehr in der Küche während der Mahlzeiten, also auch nicht in Hosentaschen und an Handgelenken, um die Versuchung weiter einzudämmen. Fand mein Mann erst mal nicht so gut, also, dass das damit auch für seine Smartwatch gilt. Er wurde aber überstimmt und hat sich dem Mehrheitsentscheid gebeugt. So funktioniert Demokratie im Kleinen. Ohrenschmaus Wenn wir schon beim Wünschen sind : Auch Rio Reiser träumte einmal davon, bestimmen zu dürfen. Ist 40 Jahre her, aber gerade wegen der Zeitreise, auf die man sich mit seinem Song begibt, heute umso unterhaltsamer. Was steht an? Wie geht es weiter in Gaza? Darüber beraten in Istanbul die Außenminister mehrerer muslimischer Staaten. Erwartet werden die Außenminister von Ägypten, Indonesien, Jordanien, Pakistan, Katar, Saudi-Arabien und der Vereinigten Arabischen Emirate. Laut dem türkischen Außenminister Hakan Fidan sprechen sie über Fortschritte und Hindernisse bei der Umsetzung des Friedensplans und über die "nächsten Schritte". Atommüll vor der eigenen Haustür? Das wollen die wenigsten. Auch diejenigen nicht, die den Ausstieg aus der Atomkraft bedauern. Trotzdem muss ein sicheres Endlager für die gewaltige Menge von 27.000 Kubikmetern hochradioaktivem Müll gefunden werden, der in mehr als 60 Jahren in deutschen Atomkraftwerken entstand. In einem aufwendigen Verfahren sucht die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) nach einem solchen Standort – bis spätestens 2050 soll der Gesetzgeber dann über diesen entscheiden. Um 12 Uhr präsentiert die BGE in Berlin einen Zwischenstand der infrage kommenden Regionen. In zwei Jahren werden diese dann weiter eingegrenzt und für oberirdische Erkundungen vorgeschlagen. Es bleibt also spannend. Neue Nahrung für die Debatte um Handyverbote an Schulen und Altersgrenzen für Social Media? Die Bertelsmann Stiftung stellt in Berlin eine Studie der Universität Potsdam vor. Darin wurden die Social-Media-Feeds junger Menschen zur Bundestagswahl 2025 auf TikTok, YouTube, Instagram und X analysiert. Mal was Positives Impfungen etwa gegen Grippe, Covid oder Gürtelrose beugen nicht nur akuten Infektionen mit diesen Viren vor, sondern schützen auch das Herz. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie stuft sie jetzt als offizielle Präventionsmaßnahme für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein, wie meine Kollegin Lynn Zimmermann schreibt. Weitere Lesetipps Russland testete kürzlich erfolgreich zwei neuartige Waffen, wie Kremlchef Wladimir Putin verkündete. Donald Trump kündigte daraufhin Atomwaffentests an. Was hinter den militärischen Muskelspielen Moskaus steckt, hat Politikredakteur Simon Cleven analysiert. Deutschland ist immer noch ein Innovationsstandort. Kleine Firmen kämpfen weniger mit fehlender Kreativität als mit der Bürokratie, wie ein Gründer aus der Verteidigungsbranche meinem Kollegen Tobias Schibilla im thüringischen Tautenhain erzählte. Die Laune ist durchwachsen, die Umfragen sind schlecht: Die Fliehkräfte in der schwarz-roten Koalition nehmen zu. Dabei will die Regierung doch eigentlich wichtige Reformen beschließen, schreiben unser Chefreporter Johannes Bebermeier und unser politischer Reporter Daniel Mützel. Zu guter Letzt Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Start in die Woche – fit und ohne Infekte. Morgen schreibt Ihnen Florian Harms wieder. Herzlichst Ihre Heike Vowinkel Textchefin t-online X: @HVowinkel Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an [email protected] . Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter. Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren. Mit Material von dpa. Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier . Alle Nachrichten lesen Sie hier .
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