Seltene Erkrankungen stellen Betroffene, deren Familien und Behandelnde oft vor große Herausforderungen. Ein Beispiel ist die kongenitale Muskeldystrophie. Muskeldystrophien sind langsam fortschreitende, chronische Erkrankungen, deren gemeinsames Merkmal eine degenerative Veränderung (Dystrophie) der Muskulatur mit Muskelschwäche ist. In der Regel verstärkt sich die Muskelschwäche im Laufe der Zeit immer mehr. Eine Variante der Muskeldystrophien ist die kongenitale Muskeldystrophie (englisch: congenital muscular dystrophy, CMD). Diese macht sich normalerweise bereits bei der Geburt oder in den ersten Lebensmonaten bemerkbar: "Kongenital" bedeutet "von Geburt an vorhanden". Die kongenitale Muskeldystrophie zählt zu den seltenen Erkrankungen. (Laut EU-Definition gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie nicht mehr als eine von 2.000 Personen betrifft.) Nachfolgend erfahren Sie, wodurch sie entsteht, was die Diagnose für Betroffene bedeutet und welche Therapie inwieweit helfen kann. Ursachen Die kongenitale Muskeldystrophie ist erblich bedingt. Ursachen sind Veränderungen (Mutationen) in den Erbanlagen (Genen), die für den Aufbau und die Funktion gesunder Muskeln verantwortlich sind. Als Folge der Mutationen können die Muskelzellen ihre Funktion nicht mehr erfüllen, was mit der Zeit zu fortschreitender Muskelschwäche führt. Die Mutationen sind meist autosomal-rezessiv vererbbar. Das bedeutet: Ein Kind kann nur dann eine kongenitale Muskeldystrophie entwickeln, wenn es das ursächliche veränderte Gen von beiden biologischen Eltern erbt. Mitunter entsteht eine Mutation jedoch neu, also zum ersten Mal innerhalb einer Familie: Dies bezeichnet man als Neumutation oder "de novo"-Mutation. Die kongenitale Muskeldystrophie tritt in mehreren Formen auf, die sich darin unterscheiden, welches Gen die ursächlichen Mutationen aufweist. Eine der häufigsten Formen, die Muskeldystrophie Typ 1A (MDC1A), entsteht durch Mutationen im Gen LAMA2. Dieses Gen trägt die Information für den Aufbau des Proteins namens Laminin-Untereinheit alpha-2, auch Merosin genannt, das wichtig für die Muskelfunktion ist. Wenn das Gen mutiert und dadurch eine Fehlfunktion hat, kommt es zu einem Merosinmangel. Symptome Typisch für eine kongenitale Muskeldystrophie ist eine Muskelschwäche, deren erste Symptome sich gewöhnlich bei der Geburt oder kurz danach zeigen. Mitunter macht sich die Erkrankung auch schon während der Schwangerschaft bemerkbar – nämlich durch eingeschränkte Bewegungen des Kindes im Mutterleib und zu viel Fruchtwasser (Polyhydramnion). Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass das Ungeborene weniger Fruchtwasser schluckt als üblich. Neugeborene oder wenige Wochen bis Monate alte Babys mit kongenitaler Muskeldystrophie haben in der Regel eine verminderte Muskelspannung, also schlaffe Muskeln mit Überstreckbarkeit der Gelenke ("floppy infant"), und bewegen Arme und Beine aus eigenem Antrieb kaum. Sie schreien kraftlos und saugen schwach, was zu Problemen beim Stillen und Füttern führt. Im weiteren Verlauf kann die Muskelschwäche durch eine verzögerte Entwicklung der grobmotorischen Fähigkeiten auffallen. So haben betroffene Kinder oft Schwierigkeiten, ihren Kopf hochzuhalten, und lernen verspätet, selbstständig zu sitzen, zu stehen oder zu gehen. Neben Muskelschwäche kann eine kongenitale Muskeldystrophie viele weitere Symptome verursachen. Möglich sind zum Beispiel: Augenprobleme wie Kurzsichtigkeit und grüner Star hängende Augenlider Krampfanfälle Fehlbildungen des Gehirns geistige Behinderungen Welche Symptome im Einzelfall auftreten, hängt von der Form der Erkrankung ab. So führen etwa Mutationen im LAMA2-Gen (kongenitale Muskeldystrophie Typ 1A) zu starken Einschränkungen der körperlichen Bewegungsfähigkeit, während die geistige Entwicklung in der Regel normal ist. Mögliche Komplikationen Je nach ihrer Form und Schwere kann eine kongenitale Muskeldystrophie außerdem mit unterschiedlichen Komplikationen verbunden sein. Dazu zählen vor allem eine eingeschränkte Mobilität: Manche Betroffene können nie selbstständig – also ohne Hilfsmittel – gehen oder (selten) sitzen oder verlieren diese Fähigkeit mit Fortschreiten der Erkrankung wieder. Atemwegsprobleme: Durch die schwache Atemmuskulatur kann eine chronische Ateminsuffizienz entstehen, die oft eine maschinelle Beatmung notwendig macht. Diese kann weitere Komplikationen wie einen Lungenkollaps und Lungenentzündungen nach sich ziehen. Herzerkrankungen: Häufig kommt es zu einer Erkrankung des Herzmuskels (Kardiomyopathie), die zu einer chronischen Herzschwäche (Herzinsuffizienz) führen kann. Folgen von Bewegungsmangel: Die eingeschränkte Mobilität erhöht das Risiko für Druckgeschwüre, eine eingeschränkte Beweglichkeit bis hin zur völligen Versteifung von Gelenken (Gelenkkontrakturen), eine Verkrümmung und Verdrehung der Wirbelsäule (Skoliose), eine verminderte Knochendichte und Knochenbrüche. psychische Auswirkungen: Bedingt durch das Leben mit der chronischen Muskelerkrankung können die Betroffenen zudem Depressionen und/oder Angstzustände entwickeln. Diagnose Um eine kongenitale Muskeldystrophie sicher zu diagnostizieren, sind verschiedene Tests nötig: Nur so gelingt es, andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen auszuschließen und die genaue Form der Muskeldystrophie festzustellen. Das ist wichtig, um die Betroffenen bestmöglich behandeln zu können. Als Erstes erfolgt bei möglichen Anzeichen für eine kongenitale Muskeldystrophie normalerweise eine körperliche Untersuchung. Dabei kann die Ärztin oder der Arzt auch gleich Nerven- und Muskelfunktionen überprüfen. In einer anschließenden Blutuntersuchung kann die Ärztin oder der Arzt den Wert für Kreatinkinase (CK) bestimmen lassen: Dieses Eiweiß (Protein) setzen Muskeln frei, wenn sie geschädigt sind. Erhöhte CK-Werte im Blut können also unter anderem auf eine kongenitale Muskeldystrophie hinweisen: Bei etwa 40 Prozent der Betroffenen ist der CK-Spiegel 5- bis 20-mal höher als normal. Der Verdacht auf eine kongenitale Muskeldystrophie lässt sich mithilfe einer Muskelbiopsie bestätigen: Dazu entnimmt die Ärztin oder der Arzt eine Gewebeprobe aus einem Muskel, um diese unter dem Mikroskop untersuchen zu lassen. Dabei können sich auch Hinweise auf die Form der Muskelerkrankung ergeben. Um die Diagnose zu sichern, eignet sich ein Gentest – etwa anhand einer Blutprobe: Darin lassen sich die Genmutationen – also die Veränderungen in den Erbanlagen – feststellen, die den verschiedenen Formen der kongenitalen Muskeldystrophie zugrunde liegen. Mitunter kommen zum Nachweis einer kongenitalen Muskeldystrophie und ihrer Auswirkungen weitere Untersuchungen zum Einsatz – wie etwa eine Messung der elektrischen Aktivität der Muskeln und Nerven (Elektromyografie): Damit lässt sich die Muskel- und Nervenfunktion überprüfen. eine Ultraschalluntersuchung des Herzens (Echokardiografie) und eine Messung der Herzströme (Elektrokardiografie): Hierbei zeigt sich, ob das Herz in Mitleidenschaft gezogen ist. eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns: Diese kann Gehirnveränderungen aufdecken, die für bestimmte Formen der kongenitalen Muskeldystrophie typisch sind. Therapie Die kongenitale Muskeldystrophie ist bislang nicht heilbar. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Dies kann die unterschiedlichsten Maßnahmen erfordern. Dazu zählen Physio- und Ergotherapie: Physiotherapeutische Maßnahmen dienen dazu, die geschwächte Muskulatur zu stärken und zu dehnen, um die Beweglichkeit zu erhalten. Eine Ergotherapie hilft, mit Einschränkungen umzugehen und den Alltag möglichst eigenständiger zu bewältigen. Mobilitätshilfen: Orthopädische Gehhilfen wie Orthesen, Krücken und Gehstöcke oder Rollstühle verleihen den Betroffenen mehr Mobilität und helfen, Stürze zu vermeiden. Operationen: Chirurgische Eingriffe können angebracht sein, um versteifte Gelenke zu lockern oder eine Wirbelsäulenverkrümmung zu korrigieren und so die Beweglichkeit zu verbessern. Herzbehandlung: Der frühzeitige Einsatz von Medikamenten (wie ACE-Hemmern und Betablockern) kann die Erkrankung des Herzmuskels verlangsamen und soll so das Auftreten einer Herzschwäche verhindern. Bei Herzrhythmusstörungen oder bereits bestehender Herzschwäche kommt womöglich ein Herzschrittmacher in Betracht. logopädische Behandlung: Eine Logopädin oder ein Logopäde kann Betroffenen helfen, die Schwierigkeiten beim Sprechen und/oder Schlucken haben. Atemtherapie: Bei Atemproblemen kann ein Gerät nötig sein, um die Atmung zu unterstützen – etwa ein Beatmungsgerät oder ein sogenannter Hustenassistent, der hilft, Schleim abzuhusten und abzutransportieren. In schweren Fällen kommt mitunter auch eine künstliche Beatmung in Betracht. künstliche Ernährung: Wenn Schluckschwierigkeiten die Nahrungsaufnahme erschweren, besteht die Möglichkeit, die Betroffenen über einen Schlauch in den Magen künstlich zu ernähren. Eine solche Magensonde kann etwa durch die Nase oder auch operativ durch die Bauchdecke in den Magen eingeführt werden. Allein diese Maßnahmen zeigen bereits, wie vielfältig die Probleme sein können, die eine kongenitale Muskeldystrophie mit sich bringt. Um die Betroffenen optimal versorgen zu können, ist es daher hilfreich, schon bald nach der Diagnose fachübergreifende Spezialistinnen und Spezialisten in die Therapie einzubeziehen. Auch regelmäßige Kontroll- und Nachsorgeuntersuchungen sind für Menschen mit kongenitaler Muskeldystrophie wichtig: Denn dies ermöglicht es, schnell auf sich verschlimmernde oder neue Probleme zu reagieren und die Therapie entsprechend anzupassen, was die Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessern kann. Prognose Wie eine kongenitale Muskeldystrophie im Einzelfall verlaufen wird, ist schwer vorherzusagen. Im Allgemeinen ist die Prognose von Muskeldystrophien umso besser, je später im Leben sie auftreten. Inwieweit eine kongenitale Muskeldystrophie die Lebenserwartung verkürzt, hängt davon ab, wie schnell die Erkrankung fortschreitet und welche Muskeln betroffen sind. Ist etwa die Funktion der Atemmuskulatur oder des Herzmuskels durch Muskelschwäche beeinträchtigt, können Atem- oder Herzprobleme im Extremfall vorzeitig zum Tod führen.