"Neom" und "The Line": Saudische Großprojekte scheitern an Realität

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Saudi-Arabien hat den Bau einer gigantischen Zukunftsstadt durch die Wüste vorzeitig gestoppt. Berichte zeigen, wie der Traum des Landesherrschers platzte. Das Bauprojekt im Mittelpunkt von Saudi-Arabiens Zukunftsvision "Neom" klang zu fantastisch, um wahr zu sein. "The Line" sollte eine 170 Kilometer lange, 500 Meter hohe Science-Fiction-Metropole werden, in der neun Millionen Menschen leben sollten. Um diese Utopie Wirklichkeit werden zu lassen, versetzten Hunderttausende Arbeiter mit Tausenden Fahrzeugen in der Wüste des Königreichs buchstäblich Berge, nur um die Fundamente von The Line zu legen. Auf Satellitenbildern ist der Umriss der Linie bereits aus dem Weltall zu sehen. Doch jetzt stehen vielerorts die Bauarbeiten still . Das Königreich hat die Pläne beträchtlich zurückgefahren. Ob jemals auch nur ein Meter der vertikalen Stadt fertig wird, ist ungewiss. Recherchen des "Wall Street Journal" (WSJ) und der "Financial Times" (FT) zeigen, wie die wirtschaftliche Realität die Träume von Kronprinz Mohammed bin Salman eingeholt hat. Der Kronprinz und sein Traum "Neom" war von Beginn an mehr als ein Bauprojekt: Für den autoritären De-facto-Herrscher sollte es zum Symbol seiner Agenda "Vision 2030" werden, die Saudi-Arabien von der Öl-Ökonomie in eine digitale Zukunft führen sollte. In einer Discovery-Dokumentation über "The Line" erklärte bin Salman im Jahr 2023, viele Projekte im Königreich würden als nicht realisierbar und zu ambitioniert abgetan, doch Saudi-Arabien werde den Skeptikern "das Gegenteil beweisen". "Werden das nicht zulassen" : Trump-Projekte sorgen für Proteste Ölpreise fallen : Saudischer Staatskonzern verzeichnet Gewinneinbruch Die Idee der linearen Stadt stammt demnach direkt von bin Salman. In der Dokumentation erklärt der Kronprinz, wie er einen anfangs konventionell geplanten, zwei Kilometer breiten Siedlungsstreifen gedanklich "zusammenklappte" und zu einer 500 Meter hohen, verspiegelten Wand verdichtete, in der die Menschen in die Vertikale ziehen sollten. Trotz Warnungen von Planern und Architekten bestand er darauf, dass The Line 500 Meter hoch und 200 Meter breit werden müsse – eine Entscheidung, die nicht nur die Statik, sondern auch die Kosten in extreme Höhen trieb. Doch der Kronprinz verfügt im Königreich über die Kontrollmacht. Er ist Vorsitzender des "Neom"-Verwaltungsrats, seine Zustimmung ist für zentrale architektonische Entscheidungen nötig. Mitarbeiter beschrieben in den "FT" und dem "WSJ", wie sich der Kronprinz grundsätzlich mit einem Gefolge von 40 bis 50 Personen umgibt. In Entscheidungsrunden habe bin Salman Ideen präsentiert, für die sein Umfeld applaudierte. Es habe eine Atmosphäre der Angst geherrscht, in der Kritiker still blieben. Versteckter Hafen, Flughafen, Schnellzug Am spektakulärsten an dem Projekt war wohl der versteckte Jachthafen. Die größten Kreuzfahrtschiffe der Welt sollten durch ein Tor in einen aus der Wüste gesprengten Tiefwasserhafen einlaufen, über dem ein 30-stöckiges Gebäude wie ein Kronleuchter kopfüber hängen sollte. Darüber wiederum war ein Fußballstadion mit 45.000 Plätzen in 350 Metern Höhe geplant, gedacht auch für die Fußball-WM 2034. Doch je konkreter die Pläne wurden, desto klarer wurde, dass die Physik nicht mitspielt: Der gigantische Kronleuchter könnte sich wie ein Pendel in Bewegung setzen und im Extremfall in den Hafen stürzen. Zudem bräuchte der künstliche Hafen ohne natürliche Strömung gewaltige Pumpen, die dauerhaft laufen müssten, um das Wasser vor Stagnation zu schützen. Auch ein neuer Flughafen war vorgesehen: Neom International sollte am östlichen Ende von The Line entstehen und mit fünf Start- und Landebahnen bis zu 100 Millionen Passagiere im Jahr abfertigen. Zum Vergleich: Der Frankfurter Flughafen verfügt über vier Start- und Landebahnen und fertigt rund 60 Millionen Passagiere ab. Weil die Umsetzung in immer weitere Ferne rückte, setzten die Planer auf den deutlich kleineren, bereits existierenden Neom Bay Airport. Der Flughafen sollte per Schnellzug mit der Stadt verbunden werden. Unter dem versteckten Jachthafen war ein Hochgeschwindigkeitsbahnhof geplant, der auf Wunsch von bin Salman in 20 Minuten erreichbar sein sollte. Doch diese angepeilte Fahrzeit wäre nur mit Nonstop-Verbindungen möglich gewesen, also ohne Zwischenhalte in der Stadt entlang der Strecke. Diese Zwischenhalte sind aber für die Stadtbewohner essenziell. Denn alle Menschen in der Stadt sollen ohne Autos auskommen und sich ausschließlich mit autonomen Shuttles und dem Schnellzug bewegen. Die gigantischen Kosten und Bedarfe Die Vision hatte einen Preis, der sich rasch von jeder wirtschaftlichen Realität entfernte. Laut internen Unterlagen, die das "Wall Street Journal" einsehen konnte, lagen die ursprünglichen Kostenschätzungen für The Line bei 1,6 Billionen Dollar und stiegen binnen weniger Monate auf rund 4,5 Billionen Dollar. Das entspricht der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands. Langfristig wurden die Gesamtinvestitionen für "Neom" sogar auf 8,8 Billionen Dollar geschätzt. "The Line" hätte demnach ganze Teile der Weltwirtschaft für sich beansprucht. Nach Berechnungen von Planern hätte schon ein erster Abschnitt Millionen Tonnen Stahl und Beton verschlungen. Für die komplette Strecke wären zeitweise mehr als die Jahresproduktion Frankreichs an Zement nötig gewesen. Ingenieure warnten, dass "Neom" bis zu 60 Prozent der jährlich verfügbaren Produktion von grünem Stahl verbrauchen und selbst den Markt für Fassadenverkleidungen nahezu leer kaufen würde. Gleichzeitig war die Logistik kaum zu bewältigen. Für den vorgesehenen Bauabschnitt bis 2030 hätte laut einem leitenden Bauleiter alle acht Sekunden ein Container auf der Baustelle eintreffen müssen – und das rund um die Uhr. Einer solchen Taktung seien der kleine Hafen in der Nähe und die wenigen Straßen in der Wüste nicht gewachsen, zitiert die "FT" einen Experten. Trotz alldem sind die Bauarbeiten bereits vorangeschritten. "FT" und "WSJ" berichten übereinstimmend, dass mehr als 50 Milliarden Dollar in das Projekt geflossen sind. Die Wüste wurde über Dutzende Kilometer mit Gräben, Tunneln und Pfählen überzogen, und Bauarbeiter haben rund 6.000 Fundamente für "The Line" gesetzt. Für die Bauarbeiten wurden zudem mehrere Dörfer abgerissen und Angehörige des Huwaitat-Stammes vertrieben. Mehrere von ihnen sind nach Protesten gegen "Neom" zu langen Haftstrafen verurteilt worden, einigen droht demnach sogar die Todesstrafe. Bin Salman wird mit der Realität konfrontiert Ursprünglich war geplant, dass das Bauvorhaben auch von ausländischen Investoren getragen würde. Doch diese blieben aus, weshalb der Großteil der Kosten vom saudischen Staatsfonds gestemmt wurde. Im Angesicht der gigantischen Kostenexplosion setzte dieser eine interne Prüfung aller "Neom"-Projekte auf. Der 100 Seiten starke interne Prüfbericht weist auf "vorsätzliche Manipulation" in Finanzmodellen und bewusst geschönte Renditeprognosen hin, schreibt das "WSJ". Berater und Manager hätten dem Kronprinzen demnach lange vermittelt, "The Line" sei trotz explodierender Kosten finanzierbar, statt die Grundannahmen infrage zu stellen. Doch inzwischen hat der saudische Staatsfonds in seinem Jahresbericht den Wert seiner Megaprojekte, darunter "Neom", nach unten korrigiert: Sie werden zum Jahresende 2024 auf umgerechnet rund acht Milliarden Dollar weniger beziffert als zuvor. Das entspricht einem Abschlag von gut zwölf Prozent. Gleichzeitig versucht die Führung, das Narrativ anzupassen. "Neom" sei ein Projekt über "50 oder 100 Jahre", betonen Regierungsvertreter inzwischen, die erste Phase werde kleiner ausfallen, die Grundidee soll aber bleiben. Was ist übrig geblieben? Statt einer 170 Kilometer langen Stadt soll bis 2030 nur noch ein 2,4 Kilometer langer Abschnitt fertig werden. Anstelle von 1,5 Millionen Bewohnern planen die Verantwortlichen nur noch mit weniger als 300.000 Menschen. Auf der Baustelle sind die Arbeiten an vielen Stellen verlangsamt oder gestoppt worden. Berichten zufolge hat "Neom" inzwischen bis zu 20 Prozent der Belegschaft abgebaut und mehr als 1.000 Mitarbeiter aus der Wüste in die Hauptstadt Riad verlegt. Parallel verfolgt das Königreich andere Teile des "Neom"-Komplexes weiter, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. So entsteht auch eine Anlage für grünen Wasserstoff, die als eines der Vorzeigeprojekte gilt. Daran beteiligt ist auch das deutsche Unternehmen Thyssenkrupp Nucera, das nach eigenen Angaben Elektrolyseure liefert, die zu Spaltung von Wasserstoff und Sauerstoff dienen. Auf Anfrage von t-online teilte eine Sprecherin mit, das Projekt komme "sehr gut voran" und solle nach der Inbetriebnahme täglich bis zu 600 Tonnen CO2-freien Wasserstoff produzieren. Das Skigebiet Trojena, vorgesehen als Austragungsort der Asiatischen Winterspiele 2029, und die Luxusinsel Sindalah stehen deutlich schlechter da. Trojena ist im Bau, kämpft aber mit steigenden Kosten und einem nach hinten geschobenen Zeitplan. Sindalah wurde zwar mit einer aufwendigen Eröffnungsparty präsentiert, ist jedoch Jahre im Verzug, deutlich teurer als geplant und für normale Gäste weiterhin nicht regulär geöffnet. "Neom" bleibt damit trotz Milliardenkosten ein Mosaik aus Großbaustellen und Prestigeprojekten, die nur in Werbefilmen existieren. All das ist weit entfernt von der geschlossenen Zukunftsstadt, mit der bin Salman einst die wirtschaftliche Wende seines Landes demonstrieren wollte.
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