"No Kings"-Proteste: Erwacht heute das Anti-Trump-Amerika?

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Trump hat die Abschiebebehörde ICE in eine Art paramilitärische Truppe verwandelt. Doch der Widerstand dagegen wächst. Millionen Amerikaner wollen am Samstag aufstehen gegen sie und die neue "autoritäre Normalität". Der Septembermorgen begann ruhig in Franklin Park, nahe Chicago , im US-Bundesstaat Illinois. Doch die Stille wurde jäh zerrissen, als Beamte der amerikanischen Abschiebebehörde ICE einen Mann auf der Straße stoppen wollten. Silverio Villegas‑Gonzalez, 38, zweifacher Vater, seit 2007 ohne gültige Papiere in den USA , saß in seinem Auto auf dem Weg zur Arbeit, als die Situation eskalierte. Augenzeugen hörten quietschende Reifen, Schreie und das hektische Rufen der Beamten. Innerhalb weniger Sekunden herrschte in dem Vorort nahe dem Chicago O'Hare International Airport Chaos und Furcht. Offenbar in Panik fuhr Villegas‑Gonzalez los, schleifte dabei einen der Beamten mit seinem Fahrzeug mit und wurde schließlich von den Schüssen der Beamten getroffen. Minuten später lag er leblos auf dem Asphalt, während Nachbarn aus ihren Häusern starrten, unfähig zu begreifen, was geschehen war. ICE erklärte, der Einsatz sei nötig gewesen, weil ein Beamter in Gefahr gewesen sei. Für die Gemeinde war es ein Schock: Zurück blieben Wut und Trauer und die Frage, wer die Verantwortung für Villegas-Gonzalez' Tod trägt. Szenen wie diese sind in der zweiten Amtszeit von Donald Trump zur neuen Normalität geworden. Was einst als Ausnahme galt, passiert heute täglich: nächtliche Razzien, maskierte Beamte, gepanzerte Fahrzeuge in Wohnvierteln. Immer mehr Amerikaner werden Zeugen dessen, was Kritiker eine "autoritäre Normalisierung" nennen. Und sind davon verstört. "Das ist total krank", entfuhr es einer Frau in der Hauptstadt Washington , die wie erstarrt vor ihrem Laden, unweit des Hauptbahnhofs, stand. Rund ein Dutzend, teils maskierte Beamte in vier Autos hatten vor ihren Augen gerade den Lieferwagen eines örtlichen Handwerkerbetriebs gestoppt. Den Fahrer, einen Mann mit lateinamerikanischem Aussehen, nahmen sie kurzerhand fest und fuhren mit ihm davon. Sein Lieferwagen blieb verlassen, mitten auf der Straße, stehen. Der Mann, der wie Millionen von Ausländern ohne Papiere in den USA regulär einer Arbeit nachgeht und Steuern zahlt, widersetzte sich nicht. Was seitdem mit ihm geschehen ist, weiß keiner der Zeugen. Landesweite Protestwelle gegen autoritären Staatsumbau An diesem Samstag aber wollen viele Millionen US-Bürger bei den landesweit ausgerufenen "No Kings"-Demonstrationen ihre Stimme zum Protest gegen Trumps Politik erheben. Nicht nur gegen das brutale Vorgehen der Abschiebebehörde, die im Vergleich zu vielen anderen Institutionen finanziell zunehmend gut ausgestattet ist. Die Ziele sind vielfältig. Sie richten sich aber vor allem gegen den von vielen als autoritär empfundenen Staatsumbau des Präsidenten und seiner Regierung. Die Bewegung "No Kings" hatte schon im Juni Rekorde gebrochen. Schon damals gingen Millionen auf die Straße. In mehr als 2.500 Städten – von New York im Westen, über Anchorage in Alaska bis an die Westküste in Los Angeles und in den Süden nach San Antonio – wollen sie auch dieses Mal demonstrieren, um eine einfache Botschaft zu senden: Amerika hat keine Könige. Diese zweite landesweite Mobilisierung, die als "Tag des friedlichen Widerstands" angekündigt wird, könnte nun die bislang größte Protestwelle seit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus werden. Die zentrale Frage lautet: Wird dies die erste große Konfrontation zwischen Trump und Amerikas Opposition? Denn innerhalb weniger Monate hat Donald Trump die Vereinigten Staaten stärker verändert als in seiner gesamten ersten Amtszeit. Seine Kritiker – ein immer weiter anwachsendes Bündnis aus Oppositionspolitikern, ehemaligen Regierungsbeamten, Bürgerrechtsgruppen und gewöhnlichen Bürgern – werfen ihm vor, mit einem autoritären Drehbuch zu regieren: Gegner zu diffamieren, Bundesbehörden zu instrumentalisieren und jede Form des Widerspruchs als "unamerikanisch" zu brandmarken. Die ICE-Razzien gleichen einer Militäroperation Trump verwischt die Grenze zwischen zivilen Polizei- und militärischen Einsätzen zunehmend, wenn er etwa die Nationalgarde und das Militär in Städte wie Los Angeles, Portland, Chicago oder Memphis entsendet. Mehrfach drohte er schon damit, den "Insurrection Act" anzuwenden, also ein zweihundert Jahre altes Notstandsgesetz, das es ihm ermöglicht, das Militär im Inneren einzusetzen – auch gegen den Willen der Justiz. Nicht nur Migranten, auch immer mehr Amerikaner fürchten, dass sie in die Fänge der Sicherheitsbehörden geraten. Besonders umstritten ist Trumps neue "Agenda zur inneren Terrorismusbekämpfung". Ein jüngst erlassenes Präsidialdekret definiert darin "anti-christliche Haltung", "Feindseligkeit gegenüber traditionellen moralischen Werten" oder "Extremismus in Migrationsfragen" als mögliche Anzeichen für Gewaltbereitschaft. Damit, warnen Kritiker, könne praktisch jede oppositionelle Gruppe überwacht oder kriminalisiert werden. Dass Trump die sogenannte Antifa-Bewegung zur inländischen Terrororganisation ohne nachvollziehbare Definition erklärt hat, verstärkt bei ihnen den Eindruck: Die US-Regierung will Jagd auf politische Feinde machen. Besonders sichtbar wird Trumps autoritärer Kurs aber bislang bei den massiven Razzien der Einwanderungsbehörde ICE. Was einst reine Vollzugsmaßnahmen waren, gleicht heute einer militärischen Operation, die Angst verbreitet und ganze Nachbarschaften in Panik versetzt. Schon jetzt sind auch Amerikaner betroffen. Im texanischen El Paso etwa erschossen Beamte offenbar den Hund einer amerikanischen Familie, während sie deren Haus nach illegalen Migranten durchsuchten. In Chicago wurde die Fernsehproduzentin Debbie Brockman bei einer Razzia brutal festgenommen, obwohl sie sich klar als Journalistin ausgewiesen hatte – ein Vorfall, der einen Bundesrichter dazu veranlasste, ICE den Einsatz von Gewalt gegen Pressevertreter zu untersagen. Videos davon gingen viral und wurden für viele zu einem von vielen Belegen für Skrupellosigkeit, Einschüchterung, Gewaltbereitschaft und Entmenschlichung im neuen Trump-Amerika. Die Folge von Trumps politisch motivierten Notstandsmaßnahmen: Das Land scheint tatsächlich immer mehr in einen Ausnahmezustand zu geraten. Um sich gegen das Vorgehen der US-Regierung zu wehren, rief das Los Angeles County zuletzt seinerseits den Notstand aus. Die Begründung lautete, es herrsche "eine Atmosphäre der Angst" und von wirtschaftlicher Not, die insbesondere Familien treffe, deren Angehörigen von ICE verschleppt wurden und seither als Versorger ausfallen. "Unamerikanisch" – das neue Schlagwort der GOP In der Hauptstadt Washington sehen führende Republikaner hingegen nicht die ICE-Razzien, sondern die Demonstranten als Bedrohung für die Demokratie. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, aber auch die republikanischen Abgeordneten Steve Scalise und Tom Emmer bezeichneten die bevorstehenden "No Kings"-Proteste als "Hass-auf-Amerika-Kundgebungen". Johnson sagte: "Sie wollen die fundamentalen Wahrheiten dieser Republik nicht verteidigen" und verwies auf "Pro-Hamas und Antifa-Leute". Diese würden "Amerika hassen." Trumps Verkehrsminister Sean Duffy bezeichnete die Demonstrationen als "Teil von Antifa". Es ist eine Rhetorik, die vor dem Hintergrund von Trumps Anti-Inlandsterror-Dekret augenscheinlich Angst einflößen soll. Wer sich an den Protesten als Organisator oder Teilnehmer beteiligt, Aufrufe verbreitet oder darüber berichtet, muss damit rechnen, von der US-Regierung als Terrorist oder als Unterstützer von Terroristen eingestuft zu werden. Der republikanische Senator Roger Marshall forderte darum vorsorglich auch schon den Einsatz der Nationalgarde. Beweise für die Vorwürfe sucht man vergeblich. Die Strategie ist klar ersichtlich: Die Widerstandsbewegung, die sich selbst als explizit friedlich bezeichnet, soll als terroristisch verunglimpft, Protest gegen die Trump-Regierung so unterbunden werden. Die Strategie der Republikaner ist nicht ohne Ironie. Denn eine der "fundamentalen Wahrheiten" der Vereinigten Staaten, auf die Politiker wie Mike Johnson verweisen, ist genau das, was die Bewegung verteidigt: Es ist laut dem sogenannten ersten Verfassungszusatz das Recht, sich zu versammeln, zu protestieren und eben ein in den Augen vieler heraufziehendes "Königtum", in Form eines allmächtigen Präsidenten zu bekämpfen. Der Widerstand wächst Ungeachtet von Trumps Drohungen soll der 18. Oktober zum neuen Höhepunkt der Protestära unter Trumps zweiter Präsidentschaft werden. Die Partnerorganisationen bezeichnen diese Ära unter anderem als "Resistance 2.0" (Widerstand 2.0) . Man beschreibt sich selbst gezielt als "dezentral, kreativ, friedlich". Dazu zählt auch die "50501-Bewegung" ("50 States, 50 Protests, One Movement"). Hier vereinen sich unter anderem Lehrer, Gewerkschaften, Klimaaktivisten, Künstler und Glaubensgemeinschaften, ebenfalls unter der Maßgabe, friedlichen Widerstand gegen Machtmissbrauch leisten zu wollen. Ein kreativer Kern der landesweiten Protestbewegung gegen Trump befindet sich derzeit in Portland im Bundesstaat Oregon , wohin Trump die Nationalgarde zum Schutz der ICE-Beamten entsandt hat. Hunderte demonstrierten dort zuletzt nackt auf Fahrrädern gegen die ICE-Einsätze in einer spontanen Sonderaktion der "World Naked Bike Ride", einer internationalen Fahrradprotestveranstaltung. Es sollte ein symbolischer Akt der eigenen Verletzlichkeit sein. Für viele Trump-Republikaner war es ein Haufen Verrückter und Radikaler. Andere Demonstranten gehen immer häufiger in aufblasbaren Frosch- oder Dinosaurierkostümen auf die Straße, nachdem ein Video viral gegangen war, das einen Sicherheitsbeamten zeigt, der einen Demonstranten im Froschkostüm durch das Luftloch hindurch mit Pfefferspray zu traktieren versucht. Über Lieferdienste wie Amazon kaufen sich Amerikaner nun schon Wochen vor Halloween ähnliche Kostüme. Sie singen, tanzen und brüllen gegen die ICE-Beamten an, die mit ihren maskierten Gesichtern, mit Plastikgeschossen, Tränengas und Pfefferspray schon rein optisch wirken, als stünden sie auf der Seite des Schreckens. Mit Humor und Freude glauben auch die Organisatoren der "No Kings"-Proteste das perfekte Mittel gegen das bewusste Verbreiten von Angst gefunden zu haben. Was als lokale Kuriosität begann, ist zu einem Massenphänomen geworden. In Washington, wo bei der ersten Runde der landesweiten Proteste im Juni bewusst keine Demonstration abgehalten wurde, soll dieses Mal die Hauptkundgebung auf der zentral gelegenen National Mall nahe dem Weißen Haus stattfinden. Redner sollen unter anderem Vertreter verschiedener Nichtregierungsorganisationen, wie der American Civil Liberties Union, der Human Rights Campaign und der League of Conservation Voters sein. Auch der bekannte Trump-Gegner, Schauspieler Robert De Niro , wird erwartet. In einer verbreiteten Videobotschaft erklärte er: "Wir hatten zweieinhalb Jahrhunderte Demokratie – und jetzt haben wir einen Möchtegern-König, der sie uns nehmen will. König Donald der Erste – fuck that!" Ein Land am Scheideweg Trump sieht und präsentiert sich stets als Präsident der Superlative. Doch genau das trifft paradoxerweise auch auf seine Gegner zu. Kein anderer Präsident hat jemals so viele Menschen gegen sich auf die Straße gebracht. Das gilt bereits jetzt. Am Samstag könnte in Amerika rein zahlenmäßig ein neuer Rekord gebrochen werden. Ob es an diesem Tag friedlich bleibt oder das Ganze im Angesicht von Sicherheitskräften und der von Trump befehligten Nationalgardisten eskaliert, hängt davon ab, wie Polizei und Militär reagieren werden. Fest steht: Für immer mehr Amerikaner fühlt es sich an, als stehe ihr Land an der Schwelle zwischen Demokratie und etwas Dunklerem, von dem keiner so richtig weiß, wo es enden wird. Trump formulierte seine Sicht auf den Protestsamstag vor Reportern in Washington, wie so oft, halb gelogen und halb spöttisch: "Die haben ihren großen Tag vor sich. Ich höre übrigens, dass kaum jemand kommen wird." Die Veranstalter gehen hingegen davon aus, so viele Menschen auf die Straße zu bekommen wie nie zuvor. Trumps frühere stellvertretende Pressesprecherin Sarah Matthews verbreitete das Foto einer einseitigen Werbeanzeige für die "No Kings"-Proteste, die landesweit in rund 200 Zeitungen erschienen ist. Matthews gehört zu jenen Republikanern, die Trump inzwischen den Rücken gekehrt haben.
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