Die Stahlindustrie befindet sich seit Jahrzehnten in einer Krise. Jetzt droht ein weiterer Abstieg. Deshalb setzt die Politik auf ein bewährtes Mittel. Vor nicht einmal einem Jahr, nach dem Stahlgipfel im Kanzleramt, stellte sich Olaf Scholz (SPD) vor die Presse. Der damalige Kanzler betonte, wie wichtig die Branche für den Standort Deutschland sei, kündigte Hilfe bei den hohen Energiekosten an und versprach, sich für einen Stahlgipfel auf EU-Ebene starkzumachen. Die damalige Oppositionspolitikerin Julia Klöckner (CDU) sagte dazu: "Die Gipfelinflation der gescheiterten Scholz-Regierung nimmt kein Ende." Inzwischen hat sich die politische Konstellation geändert: Scholz wurde abgewählt, Klöckner ist heute Bundestagspräsidentin – und die Stahlindustrie befindet sich weiterhin in der Krise. Deshalb hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) an diesem Donnerstag Länderchefs, Minister, Vertreter von Industrie und Gewerkschaften zum Stahlgipfel im Kanzleramt eingeladen. Können sie die Wende schaffen, oder geht es danach nur weiter bergab? t-online hat bei den Teilnehmern nachgefragt. Premiere : Erstmals eine Frau an der Spitze von deutschem Stahlgiganten Autoindustrie : Chinesische Hersteller haben Deutschland im Visier Eine Branche im Rückzug Aus dem nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium heißt es dazu: "Die Lage ist ernst." In den ersten neun Monaten dieses Jahres sei die Rohstahlproduktion um zehn Prozent eingebrochen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärt: "Wenn nicht wirksam gegengesteuert wird, wandern nicht mehr nur einzelne Unternehmen ab." Ein Sprecher von Arcelormittal, einem der größten Stahlkonzerne Deutschlands, sagt t-online: "Die deutsche Stahlindustrie befindet sich in einer existenzbedrohenden Situation und braucht jetzt entschlossenes politisches Handeln." Das bestätigt auch NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne): "Unsere Industrie hat Nerven aus Stahl – die Politik sollte endlich auch welche zeigen." Niedersachsens Ministerpräsident Olaf Lies fordert deshalb: "Der Stahlgipfel darf kein Stuhlkreis werden." Die Branche befindet sich schon seit Jahrzehnten in einer Krise. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten deutsche Hersteller starkes Wachstum: Die westdeutsche Stahlproduktion erreichte im Jahr 1974 mit 53 Millionen Tonnen und 250.000 Arbeitern ihren Höchststand. Doch dann explodierten die Ölpreise, Billigimporte aus Ländern wie Japan und Brasilien überschwemmten den Markt und die Branche fand sich in der Stahlkrise wieder. Seitdem mussten viele Werke schließen und Hunderttausende verloren ihren Job. Jahrzehntelang versuchte die Politik, mit Subventionen und Schutzmaßnahmen das Schrumpfen zu bremsen. Doch im Jahr 2024 lag die Produktion mit 37 Millionen Tonnen Stahl und nur noch knapp 90.000 Beschäftigten weit unter der Größe von vor 50 Jahren. Doch die Branche ist immer noch ein riesiger Wirtschaftsfaktor. Deutschland ist in Europa der größte Stahlhersteller. Insgesamt hängen laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) über 600.000 Arbeitsplätze von der Stahlindustrie ab, etwa als Zulieferer und Kunden. Eine Studie des Ökonomen Patrick Kaczmarczyk zeigt zudem, dass ein Abbau der Primärstahlproduktion volkswirtschaftliche Verluste von bis zu 50 Milliarden Euro pro Jahr verursachen würde. Es steht also viel auf dem Spiel. Billigstahl aus dem Ausland Ein großes Thema des Gipfels ist ein altes Problem: Importstahl. Dieser kommt heute vor allem aus China . Die Volksrepublik produziert mehr als die Hälfte des weltweiten Stahls und der Überschuss drängt auf die Märkte. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann spricht deshalb von einer "gezielten Dumpingpolitik", bei der "chinesische Unternehmen 50 Prozent unter Marktpreis gehen und unsere Firmen kaputt machen". Saarlands Regierungschefin Anke Rehlinger (SPD) sagt: "Wer Dumping zulässt, gefährdet hochwertige Arbeitsplätze in Europa." Deshalb herrscht in einem Punkt unter fast allen Gipfelteilnehmern Einigkeit: Der europäische Markt muss sich stärker abschotten. Die EU-Kommission hat bereits angekündigt, entgegenzusteuern – mit strengeren Importquoten und Zöllen von bis zu 50 Prozent auf Übermengen. Doch Kritiker warnen, dass Zölle die Preise treiben und Vergeltung provozieren könnten. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) mahnt: "Ich bin skeptisch bei pauschalen Sanktionen. Natürlich verzerren Subventionen in China den Wettbewerb, aber auch wir betreiben Industriepolitik." Grüner Stahl – Hoffnung mit vielen Fragezeichen In der Krise gibt es einen Hoffnungsschimmer, an dem sich die Branche festhält: die Transformation hin zu grünem Stahl. Milliarden an öffentlichen Geldern sind bereits geflossen – in neue Direktreduktionsanlagen, Wasserstoffnetze und Förderprogramme. Die Transformation ist klimapolitisch begründet: Ohne eine Umstellung der Stahlproduktion auf CO2-neutrale Verfahren kann Deutschland seine Klimaziele in der Industrie nicht erreichen. Besonders engagiert zeigt sich das Saarland, wo die Stahlindustrie ein übergroßer Wirtschaftsfaktor ist. Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) erklärt: "Ohne die Transformation zu grünem Stahl wird die Industrie aus Deutschland verschwinden." Auch die IG Metall betont: "Am Kurs hin zu klimaneutraler Stahlproduktion führt kein Weg vorbei." Doch die Realität ist komplizierter. Die Umstellung auf Wasserstoff erfordert enorme Investitionen, das dafür notwendige Wasserstoffnetz befindet sich erst im Aufbau. Mehrere Bundesländer drängen deshalb auf eine stärkere politische Unterstützung. In einem gemeinsamen Papier fordern Bremen , Niedersachsen, NRW, Saarland und Sachsen eine fristgerechte Fertigstellung des Wasserstoff-Kernnetzes und eine Verlängerung der Strompreiskompensation über 2030 hinaus. Nur so könne die Transformation zur klimaneutralen Produktion überhaupt gelingen. Doch die Fortschritte sind bislang bescheiden. Arcelormittal hat sich aus seinen Umstellungsprojekten in Bremen und Eisenhüttenstadt zurückgezogen. Trotz 1,3 Milliarden Euro zugesagter Fördergelder erklärte der Konzern, die Umstellung sei "nicht wirtschaftlich". Auch ein Pilotprojekt der Deutschen Bahn , das der Konzern vor dem Gipfel stolz verkündete, wirkt eher symbolisch. Die DB will 1.000 Tonnen grünen Stahl von Saarstahl beziehen – eine Menge, die für gerade einmal 22 Kilometer Schienen reicht. Über die Kosten schweigt der Konzern. Dabei sind die Preisunterschiede erheblich: Nach Berechnungen des IW liegen die Produktionskosten für herkömmlichen Stahl derzeit bei etwa 550 Euro pro Tonne, für grünen Stahl könnten sie auf über 800 Euro steigen. Vor der Energiekrise 2019 lag der Preis pro Tonne noch bei rund 440 Euro – fast auf Augenhöhe mit den USA , wo er damals bei 430 Euro lag. Inzwischen sind deutsche Produzenten jedoch deutlich teurer, was ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erheblich einschränkt. Der Industriestrompreis Das liegt insbesondere an den hohen Stromkosten, die auch Olaf Scholz nach dem letzten Stahlgipfel senken wollte, damals jedoch keine Mehrheit mehr dafür fand. Diese bleiben im Stromimportland jedoch hoch. Jetzt hat Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) angekündigt, ab 2026 einen Industriestrompreis einzuführen , der wohl etwa fünf Cent pro Kilowattstunde betragen könnte. "Wenn sich die Industrie darauf planbar verlassen kann, wäre das ein wichtiger Schritt", sagt Anke Rehlinger – fügt aber hinzu: "Noch liegt kein Konzept vor, und im Zweifel kommt es aufs Kleingedruckte an." Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer senkt die Erwartungen für eine langfristige Besserung durch die Subvention: "Der Industriestrompreis wirkt wie ein Schmerzmittel", das kurzfristig helfe, jedoch nicht die Ursachen heilt. Laut Berechnungen des IW würde ein Industriestrompreis von fünf Cent die Branche um rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr entlasten. Ob das für eine Trendwende reicht, ist fraglich. Nach Einschätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft kann der Industriestrompreis lediglich eine kurzfristige Entlastung bewirken. Langfristig brauche es tiefgreifende Reformen – etwa bei der Energieversorgung, den Stromnetzen und der Wasserstoffinfrastruktur. Die Probleme der Branche sind also strukturell. Daran kann auch der Stahlgipfel im Kanzleramt nichts ändern. Deshalb bleibt der krisenerprobten Branche wohl nichts anderes übrig, als das zu tun, was sie am besten kann: durchhalten bis zum nächsten Gipfel.