"Tatort" am Sonntag: Krimi-Flaute geht weiter – aber in gut

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Geiselnahme statt Spurensuche: Der "Tatort" aus dem Schwarzwald überrascht als düsteres Drama mit emotionalem Showdown. Eine muntere Mischung. Eine "Tatort"-Kritik von Steven Sowa. Was, wenn der eigene Bruder zur Bedrohung wird – und der Mordfall zur Nebensache gerät? Im neuen "Tatort: Der Reini", der am Sonntag, dem 16. November, um 20.15 Uhr im Ersten läuft, rückt ein düsteres Familiendrama in den Mittelpunkt. Statt klassischer Krimikost liefert der SWR eine intensive Geiselnahme im Schwarzwald , die das Ermittlerduo Tobler und Berg emotional wie beruflich an seine Grenzen bringt. Ein Apotheker wird erschossen in seiner Wohnung gefunden, Medikamente fehlen, seine Frau ist verschwunden – ein klassischer Krimibeginn. Doch was folgt, ist alles andere als konventionell. Während sich Franziska Tobler (Eva Löbau) auf einer Fortbildung befindet und eine neue Kollegin am Tatort erste Erfahrungen sammelt, erhält Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) die Nachricht, dass sein Bruder Reinhard aus der Psychiatrie geflohen ist. Auf dem abgelegenen Hof der Familie Berg trifft er ihn wieder – und sieht sich plötzlich mit einer Geiselnahme konfrontiert. Während draußen weiter ermittelt wird, spitzt sich drinnen ein psychologisch aufgeladenes Kammerspiel zu. "Tatort" oder "Polizeiruf": Folgen und Sendezeiten der ARD-Krimis Im Zentrum dieser Eskalation steht Luke Badrow – gespielt von Karsten Antonio Mielke –, der dem Film eine bedrohliche Unberechenbarkeit verleiht. Als Gewalttäter ohne erkennbare Skrupel hält er nicht nur Berg in Schach, sondern übernimmt die Kontrolle über jede Szene, in der er auftaucht. Mielke verkörpert ihn mit einer Intensität, die den gesamten "Tatort" dominiert. Fast ebenso eindringlich agiert Felician Hohnloser als Reinhard, Friedemann Bergs psychisch labiler Bruder. Zwischen manischer Freundlichkeit und unterschwelliger Erpressung changierend, bringt er eine ambivalente Energie in das Geschehen, die so fragil wirkt, wie sein Charakter und die Lage jederzeit kippen lassen könnte. Für das Freiburger Ermittlerduo Tobler und Berg ist dieser Fall ein Einschnitt. Sie sind sich näher als zuvor – und zugleich räumlich weit voneinander entfernt. Der Film nutzt die Ausnahmesituation auf dem Hof, um lange aufgestaute Spannungen zwischen den beiden offenzulegen. Vor allem Hans-Jochen Wagner profitiert davon: Seine "Tatort"-Figur erhält in der Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte endlich die Fallhöhe, die bislang oft fehlte. Kameraarbeit fängt die beklemmende Enge ein Formal ist "Der Reini" weit entfernt von einem typischen Ermittler-"Tatort". Die Inszenierung von Robert Thalheim verlagert das Geschehen fast vollständig auf den abgelegenen Hof der Familie Berg und schafft damit eine klaustrophobische Enge, die visuell wie atmosphärisch spürbar ist. Kameramann Andreas Schäfauer nutzt Perspektiven durch Fenster und Türen, um den Zuschauer in eine Beobachterrolle zu versetzen – immer auf Distanz, nie sicher, was im nächsten Moment passiert. Dazu passen die tristen Farben, das karge Szenenbild und eine Musik, die sich weitgehend zurücknimmt, aber punktuell die emotionale Schieflage unterstreicht. Zwischendrin wirkt der Gutshof im Wald wie eine Irrenanstalt: Vom "Tatort"-Kommissar bis zum Täter hat jeder auf seine Art mit einer Störung zu kämpfen. Das Tempo ist zunächst langsam, tastend. Erst spät kommt es zu einem Showdown, der gleichzeitig blutig, überraschend und emotional aufgeladen ist. Deshalb lohnt sich der neue Schwarzwald-"Tatort" "Der Reini" ist kein Krimi, der gesellschaftliche Missstände aufdeckt oder einen komplexen Fall entschlüsselt. Stattdessen geht es um etwas Intimeres – um familiäre Schuld, um Loyalität, um den Versuch, Bindung trotz biografischer Brüche aufrechtzuerhalten. Die Geiselnahme dient als Katalysator für diese Themen, nicht als Selbstzweck. Reinhard steht dabei exemplarisch für das, was zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern oft unausgesprochen bleibt: Enttäuschung, Überforderung, vielleicht auch Scham. Die große Stärke des Films ist es, diese Dynamiken spürbar zu machen. Für Zuschauer, die einen "Tatort" als Rätselspiel begreifen, dürfte dieser Abend enttäuschend ausfallen. Zu vorhersehbar der Kriminalfall, zu nebensächlich die Auflösung. Wer jedoch offen ist für eine Charakterstudie, die psychische Krankheit und familiäre Konflikte mit erzählerischer Konsequenz verhandelt, bekommt hier einen der stärksten Filme aus dem Schwarzwald-Team. Und ein Ermittlerduo, das durch seine menschliche Verletzlichkeit endlich so greifbar wird, wie man es sich seit Jahren wünscht.
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