UnitedHealthcare-CEO Brian Thompson in New York erschossen: Spott im Netz

latest news headlines 2 wochen vor
Flipboard
Ein CEO wird erschossen. Doch statt Mitgefühl zeigen viele Menschen im Netz Freude über die Tat. Sogar eine Ethik-Dozentin stimmt mit ein. Mittwochmorgen in Manhattan , New York City: Ein vermummter Mann taucht vor einem Hotel auf. Er zieht eine Schusswaffe, feuert mehrmals von hinten auf einen Mann, steigt dann auf ein Fahrrad und fährt davon. Sein Opfer stirbt kurz darauf an seinen Verletzungen. Die Aufnahmen einer Sicherheitskamera, die den Mord zeigen, gehen um die Welt. Der Täter ist weiterhin auf der Flucht. Ein Mann ist auf offener Straße erschossen worden. Eigentlich würde man an dieser Stelle eine Welle der Anteilnahme erwarten. Doch die Reaktion ist besonders in den USA auch eine andere: Das Opfer wird mit Hohn und Spott in sozialen Netzwerken überzogen. Das Magazin Forbes schreibt, der Mord werde als eine "direkte Reaktion" verstanden, oder: Einige sähen die Tat "als Gerechtigkeit." Bei dem Toten handelt es sich um Brian Thompson, den Chef von United Health, der größten Versicherung in den Vereinigten Staaten. United Health profitiert wie wenige andere Unternehmen von der politischen Situation rund um Versicherungen in den USA: Gesetzliche Krankenversicherungen, wie es sie in Deutschland gibt, sind in den USA nur bestimmten Bevölkerungsgruppen zugänglich. Die meisten Amerikaner müssen ihre medizinische Versorgung privat organisieren. United Health soll Anträge mit fehlerhafter KI ablehnen Es gibt die Möglichkeit, sich über private Krankenversicherungen wie United Health zu versichern – für viel Geld. Doch die Versicherungen lehnen selbst notwendige Eingriffe oft ab. Patienten werden entsprechend nicht behandelt oder müssen die teils horrenden Kosten selbst zahlen. Ein Rechtsstreit um Kostenübernahme ist zwar prinzipiell möglich – kostet Betroffene aber viel Geld und Zeit. United Health soll von diesem System nicht nur profitieren, sondern es bis an die Spitze getrieben haben. Aktuell läuft ein Gerichtsverfahren gegen mehrere Versicherer, darunter United Health. Die Kläger erheben den Vorwurf, United habe sich in den vergangenen Jahren eine Künstliche Intelligenz eingekauft, die über die Anträge der Patienten entschieden habe. Die KI soll eine Fehlerquote von 90 Prozent haben. Das soll das Unternehmen angeblich gewusst, und doch die KI trotzdem weiter genutzt haben, weil sie profitabel gewesen sei: Die Ablehnungsquote schoss nach oben, und damit sanken die Kosten für United Health. Die Anklage wirft der Versicherung vor, auch zulässige Anträge abzulehnen – in dem Wissen, dass sich statistisch nur zwei von 1.000 Versicherten gegen die Ablehnung wehrt. Kläger sind Familien zweier Patienten, deren Anträge auf Altenheimaufenthalte United Health abgelehnt hatte. Die Patienten sind inzwischen verstorben. Unternehmen schaltet Kommentarfunktion ab Kurz nach Thompsons Tod setzte United Health am Mittwoch einen Post in mehreren sozialen Medien ab. Man sei bestürzt, traurig und denke an die Familie des Toten. 79.000 Nutzer reagierten bei Facebook – mehr als 73.500 mit einem lachenden Emoji. Auf all seinen sozialen Netzwerken, unter anderem Instagram, hat das Unternehmen inzwischen die Kommentarfunktion deaktiviert und alle vorherigen Kommentare entfernt. Die Schüsse haben in den sozialen Medien massenhaft Reaktionen ausgelöst, viele feiern die Tat. Eine X-Nutzerin schreibt beispielsweise in Bezug auf die Praktiken von United Health: "An zwei Schüssen zu sterben ist deutlich angenehmer, als an deinen eigenen Körperflüssigkeiten zu ersticken in dem Wissen, dass dein Medikament von einem KI-Computer abgelehnt wurde und du deinem Partner Millionen an Schulden hinterlassen wirst." Ein anderer Nutzer schreibt: "Töte einen, und du bist ein Mörder. Töte 100.000, und du erhöhst den Aktienwert deines Unternehmens." Andere reagieren auf die inzwischen veröffentlichten Fotos des Schützen, nennen den Mörder "süß" und einen "Helden". Dessen Motiv ist bisher unbekannt – doch eine Botschaft auf am Tatort gefundenen Patronenhülsen könnte Aufschluss geben. Der Angreifer hatte dort die Worte "deny, defend, depose" (ablehnen, verteidigen, absetzen) aufgeschrieben. Experten sehen darin eine Verbindung zu einem Vorwurf, der Versicherungen in den USA oft gemacht wird – nämlich, dass sie nach dem Motto "delay, deny, defend" (verzögern, ablehnen, verteidigen) arbeiten würden: Verzögere den Antrag des Patienten, lehne ihn dann ab und verteidige die Entscheidung gegebenenfalls vor Gericht. "Viele Menschen spüren tiefen Schmerz" "Krankenversicherung ist etwas zutiefst Persönliches", erklärt Yolonda Wilson, eine Dozentin für Versicherungs-Ethik in Missouri. "Viele Menschen spüren tiefen Schmerz." Zwei Beispiele für diesen Schmerz nennt das US-Nachrichtenportal NPR: Ein Vater habe von einem Antrag auf einen Rollstuhl für sein gelähmtes Kind erzählt – United Heath lehnte ab. Eine andere Frau wollte für ihre Mutter einen Termin zur Mammografie vereinbaren. Dazu kam es nicht: Ihre Versicherung bewilligte den Antrag nicht. Die Mutter leidet an Brustkrebs der Stufe 4. Generell sind US-Amerikaner laut Umfragen relativ zufrieden mit ihrer Krankenversicherung – bis sie oder Menschen in ihrem Umfeld krank werden. Kranke Menschen geben fast doppelt so oft an, "unzufrieden" oder "sehr unzufrieden" mit ihrer Krankenversicherung zu sein. "Es ist eine Sache, ob du genervt bist, weil du lange für einen Führerschein anstehen musst", erklärt Soziologie-Professorin Pam Herd. "Eine ganz andere Sache ist es, wenn solche Verzögerungen darüber entscheiden, ob du dein lebensrettendes Medikament bekommst oder eben nicht." "Meine Ärztin flehte die Versicherung an" Auch Ethik-Dozentin Yolanda Wilson hat ihre unangenehmen Erfahrungen mit United Health gemacht. Zwei Tage vor einer geplanten Operation wurde ihr zuvor bereits genehmigter Antrag plötzlich abgelehnt. "Ich saß weinend im Krankenhaus, wo ich mich eigentlich auf den Eingriff vorbereiten sollte", schreibt Wilson bei X. "Meine Ärztin flehte die Versicherung eineinhalb Tage lang an, wenn sie eigentlich andere Patienten zu versorgen hatte." Das Problem, das United Health schließlich vorgebracht hatte, "hätte man in einer Mail oder einem kurzen Telefonat mit meiner Versicherung klären können. Doch United ist bösartig und wollten den maximalen Schmerz verursachen. Also haben sie den Antrag abgelehnt." United Health genehmigte Wilsons Operation schließlich doch noch – unter der Bedingung, dass sie die teure Anästhesie selbst bezahlt. Unter dem Eindruck dieser Erfahrung schreibt die Ethik-Professorin: "Ich freue mich nicht aktiv darüber, dass der United-Chef auf offener Straße erschossen wurde. Aber ich bin auch wirklich nicht traurig."
Aus der Quelle lesen