Von Rente bis Bürgergeld: Die Zeit für die Regierung läuft ab

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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, einen "Herbst der Reformen" hat Friedrich Merz angekündigt, er will seine Wahlversprechen einlösen und die Republik aus der Verkrustung befreien. In den Sommerwochen blieb kaum Zeit für Vorbereitungen, der Kanzler und seine Minister waren mit dem Richterstreit, den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen, den US-Zöllen, Donald hier und Donald da beschäftigt. Nun bleiben nur noch vier Wochen bis zum kalendarischen Herbstbeginn am 22. September, dann soll er also anspringen, der Reformmotor. Es ist höchste Zeit: Das deutsche Wohlstandsmodell aus den Merkel-Jahren funktioniert nicht mehr. Billiges Gas aus Russland importieren, massenhaft Produkte an die Chinesen verkaufen und von den Amis militärische Sicherheit spendiert bekommen – das ist vorbei, seit Putin sich als brutaler Imperialist entpuppt hat, Xi Jinping Europa mit subventionierten E-Autos überschwemmt und Trump knallhart "America first" durchpeitscht. Deutschland muss sich neu erfinden, um seine Einzigartigkeit zu bewahren: als wohlhabendes, sicheres, friedliches und weltweit geachtetes Industrieland. Es braucht schnell tiefgreifende Reformen, und dabei stehen neben der militärischen Sicherheit und der Migration als dritte Großbaustelle die Sozialleistungen im Fokus. Die Herausforderung ist gewaltig. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Bundesrepublik zu einem der großzügigsten Sozialwesen der Welt entwickelt – nun kann sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten. Unternehmen und Beschäftigte ächzen unter wachsender Abgabenlast, die Sozialleistungen verschlingen immer größere Teile des Bundeshaushalts. Trotzdem reicht das Geld vorn und hinten nicht, um immer mehr Rentner, Pflegebedürftige, Geringverdiener und Zugewanderte adäquat zu versorgen. Der Druck des demografischen Wandels wurde viel zu lange ignoriert und künftigen Generationen aufgebürdet: Sollen doch die Enkel zahlen, Hauptsache, wir haben's heute noch bequem. Das ist nicht nur unsolidarisch, sondern auch unverantwortlich, weil es die Stabilität des Landes unterminiert und den inneren Frieden gefährdet. Erst vor wenigen Tagen hat eine Studie belegt: Bürger, die um ihren sozialen Status bangen, wählen besonders häufig rechtspopulistische Parteien . Soweit besteht sogar Konsens zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD. Doch bei der Frage, wie genau die Reformen aussehen sollen, gehen die Vorstellungen weit auseinander. Die vom Wähler gerupfte, verunsicherte SPD will ihre verbliebenen Anhänger besänftigen, indem sie hart nach links schwenkt und Steuererhöhungen fordert – gern für alle Bürger, am liebsten für Reiche. Wobei die Sozialdemokraten die Frage, wo die Grenze zum "Reichtum" beginnt, allenfalls schwammig beantworten. Ginge es nach den Jusos, würden schon Gutverdiener aus der hart arbeitenden Mittelschicht zur Kasse gebeten. Von Arbeitsministerin Bärbel Bas sind keine wegweisenden Vorschläge zu erwarten, sie duckt sich vor der Parteibasis und hat die Reformdiskussion in eine Kommission abgeschoben. CDU und CSU haben völlig andere Vorstellungen. Im Wahlkampf haben sie für harte Einschnitte in den Sozialstaat getrommelt, nun verschärft der Kanzler persönlich den Ton. "Ich bin mit dem, was wir bis jetzt geschafft haben, nicht zufrieden", wetterte er auf dem CDU-Landesparteitag in Osnabrück, "das muss mehr werden!". Gestern Abend schwor er gemeinsam mit Generalsekretär Carsten Linnemann und Fraktionschef Jens Spahn die schwarzen Minister auf einen scharfen Kurs ein. Spricht Merz über den Sozialstaat, klingt es mitunter, als beschreibe er ein Monster – was wiederum allergische Reaktionen bei vielen Sozialdemokraten heraufbeschwört. "Es hat sich etwas aufgestaut bei Union und SPD", schreibt unser Chefreporter Johannes Bebermeier . Wie also könnte ein schlüssiger Plan aussehen, der Rote und Schwarze vereint? Wie wird der Sozialstaat einfacher, gerechter, bezahlbar? Drei Vorschläge zur Belebung der Debatte: ERSTENS: Die Rente muss flexibler werden. Ich maße mir nicht an, bei diesem Thema so gut Bescheid zu wissen wie meine Kollegin Christine Holthoff , aber folgende Punkte erscheinen mir sinnvoll: Spätestens ab 2031 wird das Rentenalter Schritt für Schritt an die steigende Lebenserwartung gekoppelt. Die abschlagsfreie Frühverrentung wird gestrichen: Wer früher in Rente geht, bekommt dauerhaft weniger; wer später geht, erhält mehr – fair berechnet, ohne Privilegien für einzelne Berufsstände. Zusätzlich gründet der Staat einen günstig verwalteten Rentenfonds mit langfristigen Aktien und Anleihen. Jeder Bürger zahlt ab der ersten Beschäftigung ein; wer stattdessen lieber selbst vorsorgt, erhält später weniger staatliche Rente. Auch Selbstständige müssen fürs Alter vorsorgen, können jedoch ihre Anlageform frei wählen. ZWEITENS: Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag werden gebündelt. Eine Regel, ein Online-Antrag, eine Auszahlung. Empfänger müssen alle drei Monate nachweisen, dass sie nach wie vor bedürftig sind – die Beweislast liegt vollständig beim Bürger. Wer sich verweigert, bekommt kein Geld. Zusatzverdienste bis 2.000 Euro werden gestattet und von jedem Euro 70 Cent angerechnet. So bleibt ein erklecklicher Teil in der Tasche und Arbeit lohnt sich. DRITTENS: Arbeitslosengeld wird auf maximal ein Jahr begrenzt. Alle Empfänger absolvieren ein verpflichtendes Training im Umgang mit generativer künstlicher Intelligenz, der wirkungsmächtigsten Zukunftstechnologie. Vermittler suchen gezielt nach Kandidaten, die für Lehrämter in Schulen, Pflegedienste in Krankenhäusern und Seniorenheimen infrage kommen. Weiterbildung wird mit einem Bonus belohnt. Lösen diese Vorschläge alle Probleme? Sicher nicht, aber sie wären ein Anfang. Ökonomen, Juristen und die Autoren der Initiative für einen handlungsfähigen Staat haben weitere Vorschläge formuliert. Alles hilfreich, aber jetzt braucht es Taten. Der deutsche Sozialstaat muss wieder werden, was er ursprünglich mal sein sollte: verlässlich und fair, arbeitsfreundlich und dauerhaft finanzierbar. Er muss Bedürftigen helfen, aber nicht Leistungsverweigerer und irregulär Zugewanderte pauschal alimentieren. Deshalb braucht jede staatliche Sozialleistung zwingend eine jährliche Überprüfung durch unabhängige Fachleute: Was hilft, was schadet, was kann der Staat sich wirklich leisten? Stellt die jeweilige Bundesregierung die richtigen Weichen oder schiebt sie Probleme auf die lange Bank? Eine routinemäßige Inventur schafft Klarheit. Rafft Deutschland sich dazu auf, kommt Hilfe schneller, Arbeit lohnt sich mehr, und die Beiträge bleiben bezahlbar. Sowohl für die Älteren von heute als auch für die Jüngeren von morgen. Habeck tritt ab Er ist wohl wirklich noch mal in sich gegangen. Als Robert Habeck direkt nach dem für die Grünen enttäuschenden Bundestagswahl-Ergebnis von 11,6 Prozent seinen Rückzug aus der ersten Reihe von Partei und Fraktion verkündete, forderten Zehntausende Unterstützer in einer Online-Petition den Verbleib des "Hoffnungsträgers" in der Politik. Auch wenn schon bald Gerüchte über eine Dozententätigkeit an der Universität Berkeley in Kalifornien die Runde machten, wurde der ehemalige Wirtschaftsminister und Vizekanzler zunächst Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Gestern jedoch gab er bekannt, dass er sein Bundestagsmandat zum 1. September niederlegt, um "Abstand zu dem zu engen Korsett des Berliner Politikbetriebs" zu gewinnen. Zum Abschied teilt der 55-Jährige kräftig aus: Im Interview mit der n "taz" schmäht er Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) als "Fehlbesetzung" und wirft dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder "fetischhaftes Wurstgefresse" vor. Ein paar Sätze später beteuert er jedoch: "Ich will weder ein höhnisch-zynischer Kommentator sein, noch will ich wie ein Gespenst über die Flure laufen und sagen: Früher war ich mal Vizekanzler, erinnert ihr euch?" Ja, was denn nun – Attacke oder Abklingbecken? Offenbar hat der einstige Obergrüne seine Niederlage noch nicht verdaut und seine neue Rolle noch nicht gefunden. Vielleicht kommt die Ruhe ja im akademischen Elfenbeinturm. Letzte Chance für Iran Die Zeit drängt: Bis Ende August hatten Deutschland, Frankreich und Großbritannien dem Iran Zeit gegeben, um ein neues Atomabkommen abzuschließen. Andernfalls, so die Drohung der Europäer, müsse das Mullah-Regime sich auf die Wiedereinführung alter, harter UN-Sanktionen gefasst machen – gemäß dem im Wiener Atomabkommen von 2015 verankerten Snapback-Mechanismus. Heute wollen Regierungsvertreter aus Teheran, Berlin, Paris und London in Genf zu Verhandlungen zusammenkommen. Es dürfte die letzte Chance auf eine diplomatische Lösung sein . Lesetipps Droht die Energiewende zu platzen? Meine Kollegin Amy Walker berichtet von einer brisanten Entwicklung im Wirtschaftsministerium . Soll die Wehrpflicht freiwillig oder verpflichtend sein? Nach wochenlangem Streit haben Union und SPD gestern Abend eine Einigung erzielt – doch die wirkt wackelig, berichtet unser Reporter Daniel Mützel . 2015 kamen Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland. Zehn Jahre später zeigt eine Studie: Die meisten von Ihnen haben einen Job gefunden. Die Kollegen von Tagesschau.de haben die Details . Für die Invasion in Gaza braucht Israels Armee dringend neue Rekruten. Sie sollen aus orthodoxen Familien kommen, deren Kinder bislang vom Wehrdienst befreit waren. Warum das Israels Gesellschaft noch weiter spaltet, analysiert unser Kolumnist Gerhard Spörl . Ohrenschmaus Der Sommer verweilt noch ein wenig, wie schön. Passend dazu ein großer Song des großen Joe . Zum Schluss Ich wünsche Ihnen einen sommerlichen Tag. Herzliche Grüße und bis morgen Ihr Florian Harms Chefredakteur t-online E-Mail: [email protected] Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter. Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren. Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier . Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier . Mit Material von dpa.
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