Krise folgt auf Krise, die Weltlage ist ziemlich toxisch. In dieser Zeit hat T.C. Boyle ein Liebesdrama veröffentlicht, das auch Einblicke in die polarisierte US-Gesellschaft bietet. Im Interview erklärt der Bestsellerautor, was ihn umtreibt. Amerika ist das Land der Träume, allerdings auch der Albträume. Die Vereinigten Staaten sind tief gespalten, zurzeit will ihr 47. Präsident das Land nach seinen Vorstellungen umbauen. In diesem Klima der Polarisierung hat T.C. Boyle, einer der renommiertesten Schriftsteller der USA , seinen neuen Roman "No Way Home" angesiedelt. Doch um den politischen Ist-Zustand der USA geht es Boyle nicht in der Handlung, sondern um Liebe, Begehren und Gewalt. Was sein Roman über die USA, die menschliche Natur und die Freude am Schreiben aussagt, erklärt der Schriftsteller im Gespräch. Und auch, warum er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der USA noch nicht ganz aufgegeben hat. t-online: Herr Boyle, Ihr neues Buch ist eine dramatische Liebesgeschichte zwischen einer Frau und zwei Männern, in der es ziemlich flott zu Handgreiflichkeiten kommt. Warum wird es bei uns Menschen so schnell gewaltsam? T.C. Boyle: Ich möchte Sie nicht desillusionieren. Jedenfalls nicht gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Tun Sie sich keinen Zwang an. Wir Menschen sind Affen, ja, wir sind eine gewalttätige Spezies. Das gilt besonders für die Paarung, eine ziemlich wichtige Sache in unseren Liebesangelegenheiten. Schauen Sie sich die übrige Tierwelt an: Die Widder rammen ihre Schädel aneinander, Jahr für Jahr, es geht, natürlich, um die Paarung. Da muss es uns doch nicht verwundern, dass auch unsere menschliche Gesellschaft sehr gewalttätig ist. Ihre beiden Protagonisten, Terrence und Jesse, demonstrieren das eindrücklich. Diese beiden Männer sind jung, das Testosteron überwältigt sie, also prügeln sie sich um die ebenfalls junge Frau Bethany. Man kann sowohl Bethanys Position als auch die der beiden Männer in dieser Dreiecksbeziehung nachvollziehen: Warum tun sie das? Wieso können sie nicht damit aufhören? Jeder der beiden Männer betrachtet den anderen als eine Art Eindringling. Und das ist eine Konstellation, in der die Dinge eskalieren können. Und es auch sehr, sehr oft tun. Wie kamen Sie dazu, nun eine Liebesgeschichte zu schreiben? Zahlreiche Ihrer Bücher spielen vor dem Hintergrund der ökologischen Krisen dieses Planeten, dieses Mal steht ein menschliches Drama im Vordergrund. Im vorigen Buch, "Blue Skies", spielte die Ökologie eine wichtige Rolle, richtig. Auch bei "No Way Home" dachte ich zunächst in diese Richtung, weshalb ich Boulder City als Schauplatz ausgewählt habe: Eine Stadt in der Wüste, die ihre Entstehung dem Bau des gewaltigen Hoover Dam in den 1930er-Jahren verdankt. Aber im Laufe des Schreibens wurde mir klar, dass das Ganze in eine andere Richtung ging. So entstand eher ein Buch über eine gescheiterte Romanze, man kann es auch als eine Art Neo-Noir-Roman bezeichnen. Das Genre des Neo Noir schwelgt meist im Pessimismus. Entspricht das Ihrer derzeitigen Stimmung? Ich wiederhole mich in meinen Geschichten nicht gerne, das hatte sicher Einfluss auf die Handlung von "No Way Home". Vielleicht hat die Entwicklung des Buches auch etwas mit dem heutigen Amerika zu tun, da ich es im Vorfeld der katastrophalsten Wahl in der amerikanischen Geschichte im letzten Jahr geschrieben habe. All diese Dinge spielen eine Rolle, aber letztlich übernehmen die Figuren das Steuer – und die Geschichte entwickelt sich auf ihre eigene Weise. Das ist ein großer Spaß. Sie sind mittlerweile 76 Jahre alt. Denken Sie manchmal an den Ruhestand? Ich kann nicht aufhören, ich muss Romane und Kurzgeschichten schreiben. Nächstes Jahr erscheint übrigens eine neue Sammlung von Kurzgeschichten bei Ihnen in Deutschland. Ich bin auch ungeduldig, mit dem nächsten Roman anzufangen, aber es gibt noch einige Leute, die ich vorher treffen, und Orte, die ich vorher sehen muss. Nehmen Sie mir die Frage nicht übel … Mein Alter? Mir ist bewusst geworden, dass mich der Tod bald ereilen wird. Daher beschleunige ich das Tempo bei meinen Romanen. Bei "No Way Home" war es relativ einfach, weil ich mich nur mit dem Hoover Dam und dem Lake Mead, den die Talsperre erzeugt, beschäftigen musste. Ich hatte das große Vergnügen, zweimal mit Frau Boyle dafür nach Nevada zu fahren, um Boulder City kennenzulernen. Das hat mir sehr gefallen. Eine gewisse Rolle spielt die Ökologie dann aber doch, oder? Ökologie und Geschichte kommen durchaus vor, denn meine Romanfigur Jesse ist überaus fasziniert davon, was alles nach dem Bau des Damms im aufgestauten See begraben wurde. Er schreibt auch ein Buch über diese Geschichte. In dieser Gegend kommt so viel menschlicher Unverstand zum Tragen: Es gibt einen Ort, an dem es gerade einmal ein paar Tropfen pro Jahr regnet, was die Menschen aber in den 1930er-Jahren nicht davon abgehalten hat, dort alle Bäume zu fällen. Warum? Sie fürchteten um den Lack an den Bootsrümpfen der Leute, die dann auf dem Stausee herumschippern würden. Denn das aufgestaute Wasser hätte die Bäume und ihre Äste natürlich überflutet. Was denkt Ihr Protagonist Jesse darüber? Er hält es für widersinnig, bei 40 Grad Celsius in einer staubtrockenen Wüste Bäume zu fällen, wo ansonsten nur Wüstengestrüpp wächst. Ein durchaus nachvollziehbarer Gedanke. Mir geht es auch so. Nun herrscht dort Dürre, seit langer Zeit schon. Voll ist der See zum letzten Mal vor der Geburt meiner Romanfigur Jesse gewesen. Wie sehen Sie Ihr Buch selbst: Ist es ein Liebesdrama, eine Studie über das, was heute landläufig als toxische Beziehungen bezeichnet wird? Oder ist es gar ein moderner Western? Die Interpretation des Buches ist das Privileg der Leser. Aber ich finde es gut, dass Sie so viel darüber nachgedacht haben. Ich mag auch den Gedanken, dass ich jetzt ein Western-Autor bin. Das war ein weiter Weg von New York , wo ich aufgewachsen bin. Bis zu meinem 25. Lebensjahr bin ich nicht einmal am Hudson River gewesen. Nun leben Sie nah an der Natur in Kalifornien – womit wir bei einem weiteren Thema von "No Way Home" angelangt sind. Denn in der Handlung lebt und arbeitet ihr Protagonist Terrence als Arzt in Los Angeles , während sein Gegenspieler Jesse und die umworbene Bethany im winzigen Boulder City in Nevada zu Hause sind. Tatsächlich ging es mir auch um den Gegensatz zwischen der Großstadt und dem ländlichen Raum in Nevada. Es gibt diese gewaltige Distanz zwischen Los Angeles und Boulder City – und damit meine ich nicht die Entfernung. Die Strecke schafft man im Auto in nicht einmal fünf Stunden, je nach Verkehr. Los Angeles ist diese Riesenstadt, ein Schmelztiegel so vieler Ethnien, eher liberal. Boulder City ist klein, die Bevölkerung hauptsächlich weiß und eher rechtsgerichtet. Und nicht zuletzt geht es Ihnen auch um "Heimat" und "Zuhause"? Genau. Was macht überhaupt ein Zuhause aus? Was bedeutet das? Gibt es einen Weg nach Zuhause? Für diese Fragen habe ich meine Figur Terrence, kurz Terry, geschaffen. Er hat keine große Bindung an das von seiner Mutter geerbte Haus in Boulder City. Sie selbst ist erst nach dem Tod des Vaters dort eingezogen, Terry kennt die Stadt kaum, weil er die ganze Zeit woanders Medizin studiert hat. Ist Zuhause also nun einfach ein Ort, der sich irgendwo befindet? Oder braucht es auch dieses Gefühl, dort politisch, emotional und, ja, auch ökologisch daheim zu sein? Mithilfe des Liebesdreiecks im Buch habe ich die Suche nach den Antworten dramatisiert. Tatsächlich nehmen die Ereignisse eine dramatische Entwicklung, weil sich Ihre Figur Bethany nicht zwischen den beiden Männern entscheiden kann. Im Grunde genommen ist es einfach eine Geschichte, die mitreißt, ob man will oder nicht. Bethany steht im Mittelpunkt davon, in Teilen hatte ich den Roman "Of Human Bondage" von W. Somerset Maugham im Hinterkopf, in dem es ebenfalls um schwierige Beziehungen geht. Bethany ist eine Figur, mit der sich viele Menschen wohl nicht identifizieren können – und doch versteht man ihren Standpunkt. Da Sie die Geschichte jeweils aus der Sicht aller drei Personen erzählen, werden zumindest ihre Beweggründe deutlich. Wie schwer ist dieser Perspektivenwechsel? Das mache ich in längeren Erzählungen sehr gerne, die dritte Person ermöglicht es, die Motive der verschiedenen Charaktere zu erforschen. Ich mag keine Schwarz-Weiß-Malerei, keine eindeutig guten und bösen Kerle, jeder hat gemischte Motive. Terry ist Arzt, deswegen fällt es relativ leicht, ihn sympathisch zu finden. Dann haben wir Bethany, die eigentlich eine Verführerin ist, die Terry in ihrem Netz gefangen hält. Schließlich haben wir ihren Ex-Freund Jesse, der Motorrad fährt und ein wenig als böser Junge rüberkommt. Aber er verdient sein Geld als Highschool-Lehrer und will Schriftsteller werden. Er hat Ambitionen. Tiere erscheinen immer wieder in allerlei Form und Bedeutung in Ihren Büchern, nun war es bei "No Way Home" ein Hund. Welche Rolle haben Sie ihm zugedacht? Der Hund Daisy hat mir zu einer Schlüsselszene verholfen. Terry hat Daisy geerbt, allmählich entdeckt er seinen Respekt für das Tier. Jesse hingegen hasst Hunde; und Hunde hassen ihn. So kommt es zu einem folgenschweren Ereignis, ich will hier nicht zu viel verraten. Frau Boyle, der ich jeden Tag vorlese, während ich schreibe, stieß dabei jedenfalls einen Schrei aus. Sind Ihnen schon einmal die Ideen ausgegangen? Selbstverständlich ist es schwierig, immer inspiriert zu sein. Wir alle wissen, wie viel Disziplin das erfordert. Aber in meinem Fall – ich nehme an, auch bei den meisten Schriftstellern – überwiegt die Freude. Jeden Tag mache ich kleine Entdeckungen darüber, wie eine Geschichte aussehen könnte und wohin sie führt. Auf diese Weise ist es für mich immer überraschend und interessant. Als was betrachten Sie sich selbst: Intellektueller, Literat, Rebell? Ich könnte ein Literat sein, aber ich möchte kein Literat sein. Denn ich will ein Künstler sein. Ich möchte das wundersame Gefühl haben, mich mit einem Stoff auseinanderzusetzen und diesem Stoff Tag für Tag zu folgen, kleine Entdeckungen zu machen und zu sehen, wie sich alles zusammenfügt. Das ist so befriedigend. Kürzlich wurde eine meiner Kurzgeschichten, "The Pool", vom Magazin "The New Yorker" veröffentlicht. Als ich die letzte Seite geschrieben hatte, empfand ich riesige Ekstase, Hochstimmung und Freude. In meinem Essay "This Monkey, my Back", den Sie übrigens auf meiner Homepage finden, vergleiche ich diese Art von Ekstase mit einer Art Drogenrausch und Drogenabhängigkeit. Mit Drogen haben Sie früher Erfahrung gemacht. Ich weiß, wovon ich spreche, ja. Über eine Besonderheit von "No Way Home" sollten wir noch reden. Wir können über alles sprechen. Außer Mathematik. Sie sind scharfer Kritiker des amtierenden US-Präsidenten und seiner MAGA-Bewegung, im Buch kommt der Name Trump gar nicht vor, das Akronym MAGA genau einmal. Es gibt diese unterschwellige politische Komponente in der Handlung des Romans. Ich habe sie aber nicht in den Vordergrund gestellt, das wollte ich nicht, weil die Geschichte auch anders verläuft. Aber die Spaltung zwischen den roten und den blauen Staaten, zwischen Stadt und Land, all das ist da und wird selbstverständlich angedeutet. Subtil für Europäer, die nicht so sehr mit den Zuständen in den USA vertraut sind. In einer Szene sieht ihre Figur Terry an einer Tankstelle den Fahrer eines anderen Wagens, dessen Baseballcap rot ist. Auch wenn auf der Cap nicht MAGA steht, ist die Farbe Rot in diesem Kulturkrieg von der einen Seite okkupiert worden, ja. Es gibt übrigens eine neue Geschichte, die sich direkt mit den politischen Ereignissen der letzten Jahre in den Vereinigten Staaten beschäftigen wird. Ich muss aber um Geduld bitten, sie ist noch nicht erschienen. Wie empfinden Sie die aktuelle Lage in den Vereinigten Staaten? Wir befinden uns in einem Zustand des Schreckens, alles ist sehr unsicher und beängstigend. Das leider auch schon seit langer, langer Zeit. Die Rechte hat die Macht übernommen, und wir leben nicht mehr in einer Demokratie. Nächstes Jahr sind die Zwischenwahlen zum Kongress; wenn die Demokraten das Repräsentantenhaus zurückerobern sollten, wäre das immerhin eine Möglichkeit, den Autokraten daran zu hindern, per Dekret zu regieren. Wie er es derzeit tut. Ich hoffe inständig, dass es so kommen wird, ich bin tatsächlich zuversichtlich. Solange die gegnerische Seite die Wahl nicht manipuliert. Sie sind ein kritischer Künstler und Schriftsteller, solche Leute sind Autokraten stets ein Dorn im Auge, weswegen ihre Bücher gerne zensiert und verbannt werden. Ich werde jedenfalls nicht damit aufhören, meine freie Meinung zu äußern. Es gibt auch positive Signale: Kürzlich fand in unserer örtlichen Bibliothek eine "Banned Books Week" statt, bei der sich eine Gruppe von 25 Personen versammelt hat, um über "Fahrenheit 451" zu diskutieren. Ziemlich passend. Der Autor Ray Bradbury beschrieb darin eine Gesellschaft, in der der Besitz und das Lesen von Büchern verboten sind. Nicht wahr? Acht dieser Leute dabei waren Schülerinnen von der Highschool, sie waren absolut brillant. Apropos verbotene Bücher … Ja? Ich habe mir diese Listen mit verbotenen Büchern angesehen. Tatsächlich ist mein Buch "The Tortilla Curtain", der deutsche Titel lautet "América", irgendwo im Süden der Staaten verboten worden. Haben Sie eine Ahnung, warum? Das Buch handelt unter anderem von illegaler Einwanderung und den Lebenslügen gut situierter Amerikaner. Vermutlich ist das der Grund? Sie gaben nur einen Grund an: Das Buch sei "provokativ". Wie bitte? Ist es nicht das, was ein Künstler sein soll? Kommt schon, Leute! Wollt ihr lieber Schlaftabletten lesen? Im November gehen Sie nun in Deutschland auf Lesereise, unterstützt werden Sie vom Schauspieler Ben Becker . Wie erklären Sie sich Ihren großen Erfolg hierzulande? Die Deutschen haben einfach einen ausgezeichneten literarischen Geschmack, schätze ich. Spaß beiseite. Tatsächlich ist ein Faktor wohl, dass zahlreiche deutsche Leser mit dem Englischen so gut vertraut sind. So kann ich in Englisch vor dem deutschen Publikum funktionieren, mithilfe eines Schauspielers wie Ben Becker, der auf Deutsch liest. Ehrlich, ich liebe das deutsche Publikum, das macht so viel Spaß. Ich würde gerne öfter kommen, aber ich mag das Fliegen nicht. Die Zeit kommt mir endlos vor. Wie Sie sehen, bin ich ein interaktiver Mensch, dieses Stillsitzen im Flugzeug bekommt mir nicht. Wie verbringen Sie zurzeit angesichts der politischen Zustände Ihre Tage? Ich verstecke mich unter einem großen Felsen – und krieche nur hervor, wenn die Sonne scheint. Herr Boyle, vielen Dank für das Gespräch.