US-Open: Eklat um CEO – wann wird Kritik zur digitalen Lynchjustiz?

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Erneut benimmt sich ein Unternehmenschef in der Öffentlichkeit daneben und wird deswegen an den Pranger gestellt. Ist das zu rechtfertigen? Wut und Fremdscham – beides sind Gefühle, die die Social-Media-Maschinerie zuverlässig ölen. Und beides sind Gefühle, die viele Betrachter bei folgender Szene empfinden: Sie sehen eine Zuschauertribüne und einen Jungen, etwa acht oder neun Jahre alt, mit verwuschelten blonden Locken. Diesem Jungen reicht ein Mann mit dem Rücken zur Kamera seine Kappe. Stolz und begeistert will der Junge die Baseballcap entgegennehmen – und zack, wird sie ihm von einem neben ihm stehenden Mann einfach so weggeschnappt. Das empörte "No!" des Jungen ignoriert sein dreister Nachbar einfach mit dem selbstbewussten Habitus: Ich bin hier der Erwachsene. Was will der Bengel schon dagegen tun? Die Szene ist so glasklar, wie man es sich für so viele Szenen in dieser komplizierten Welt wünscht. Sie erfüllt durch und durch das Schwarz-Weiß-Schema: böser Mann, armer Junge. Um es mal vornehm auszudrücken. Auch bei mir sprangen sofort alle verfügbaren Emotionen an und ich vergaß kurz meine gute Erziehung. Als was ich den Erwachsenen in meinem tiefsten Inneren bezeichnete, dürfen Sie sich gerne denken. Aber wir sind ja – im Gegensatz zu diesem Barbaren – zivilisierte Menschen und behalten so etwas für uns. "Armleuchter ..." Belassen wir es dabei. Der Übeltäter wurde wüst beschimpft Das Ganze hat sich nun bei den US Open zugetragen. Tennis-Star Kamil Majchrzak (29) hatte gerade das Spiel gegen Karen Khachanov (29) gewonnen und die Kappe noch signiert, bevor er sie seinem jungen Fan in die Hand drückte. Die diesem dann der CEO eines polnischen Landschaftsbau- und Pflasterunternehmens wegnahm. Woher ich weiß, wer der unverschämte, nur auf dem Papier Erwachsene ist? Das Stichwort lautet: Kamera. Die lief während dieser entlarvenden Szene. Prompt wurde der Mann enttarnt und, fast unnötig, es zu erwähnen, unflätig auf den sozialen Plattformen beschimpft. Moment mal, Sekunde: CEO? Kamera? Soziale Netzwerke? Da war doch neulich schon mal was? Ganz genau: Noch gar nicht lange her, da sprach nicht nur das Netz über den Firmenchef, der auf einem Coldplay-Konzert beim Kuscheln erwischt wurde – mit einer Frau, die nicht seine war. Tagelang machten lustige Memes die Runde, schlachteten alle, die gerade großen Bedarf nach einem Sommerlochthema hatten, die öffentlich eingefangene Fremdgeh-Szene genüsslich aus. Es gibt immer noch Privatsphäre Allerdings meldeten sich auch schnell kritische Stimmen zu Wort. Denn auch, wenn einige es nicht begreifen können und wieder andere es nicht begreifen wollen: Ja, es gibt das Social Web – aber nein, damit hat sich das Thema Privatsphäre keinesfalls komplett erledigt. Auch wenn geld- und ruhmgeile Eltern ihre Kinder allzu gerne der Weltöffentlichkeit präsentieren; auch, wenn C-Promis sich nicht mehr anders über Wasser zu halten wissen, als jedes noch so intime Detail ihres Lebens ins Netz zu stellen – es gibt die Privatsphäre noch. Im Falle des US-amerikanischen Firmenchefs, dessen Ehefrau sich sehr schnell nach Bekanntwerden der Eskapaden ihres Mannes ebenfalls öffentlich dazu äußerte, wurde über die Trennlinie diskutiert: Hat die Öffentlichkeit ein Anrecht auf das Wissen, wie ein Unternehmenschef es mit Anstand und Moral hält? Oder geht das niemanden etwas an – und gehören vor allem komplette Namen eines Familienvaters, einer Familienmutter usw. einfach gar nicht in die Öffentlichkeit? Schwierige Frage – übrigens völlig unberührt davon, wie selten dämlich es natürlich ist, sich mit seiner heimlichen Affäre überhaupt öffentlich zu zeigen. Das steht auf einem anderen Blatt. Auch ungeschickte Menschen haben ja ein Recht auf ein Privatleben. Es ist leider nicht zufriedenstellend Tja, und damit wären wir wieder beim Mützendieb. Viel sympathischer ist der nun auch nicht. Und auch nicht viel geschickter. Wie handhaben wir es denn da mit dem öffentlichen Pranger? Gibt es da einen Katalog, ab wann ein Vergehen so schwer ist, dass es die digitale Lynchjustiz rechtfertigt? Wo ziehen wir die Grenze? Finde ich eine interessante Frage, die ich hier mal so beantworten will, wie es leider immer seltener wird: Hab' ich noch keine abschließende Meinung zu. Das ist nicht sehr zufriedenstellend, ich weiß. Vielleicht kann ich Ihnen ja hiermit noch eine Freude machen: Die Geschichte hat ein Happy End. Zum einen versucht sich der Mützendieb unheimlich plump herauszureden und rundet das jämmerliche Bild, das er abgibt, noch ab: Er habe gedacht, die Mütze sei an ihn gereicht worden. Dann hat er entweder ein Problem mit dem Denken oder eins mit den Augen. Viel wichtiger aber: Nachdem Tennis-Profi Majchrzak von der Sache erfahren hatte, traf er sich noch mal alleine mit dem Jungen – er hatte auf Instagram darum gebeten, die Identität des Kindes ausfindig zu machen. Das klappte. Und nun hat der Junge nicht nur eine signierte Basecap, sondern auch den Glauben an das Gute in der Welt zurück. Und ich auch. Immerhin ein bisschen.
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