Manche Vitamine kann der Körper selbst herstellen – andere muss man ihm zuführen. Warum das oft nicht so gut funktioniert wie gedacht, erklärt unsere Kolumnistin. Ein Vitaminmangel war früher meist Ausdruck prekärer Lebensverhältnisse: Seeleute, lange unterwegs, nur mit Zwieback oder Trockenfleisch zwischen den Zähnen, bekamen Skorbut und die Zähne fielen ihnen aus. An Land litten vor allem Kinder in dicht besiedelten, sonnenarmen Städten oder in Gegenden mit schlechter Ernährung an Rachitis – einer Krankheit infolge von Vitamin-D-Mangel. Vitamin D: Ohne Sonne keine Versorgung Der Körper kann Vitamin D nur bilden, wenn UVB-Licht auf die Haut trifft. Wer kaum Sonne abbekam, sich stark verhüllte oder in Industriegebieten mit Ruß und Smog lebte, bildete zu wenig davon. Der gestörte Kalzium- und Phosphatstoffwechsel führte zu weichen, schlecht mineralisierten Knochen, Wachstumsstörungen und den typischen O-Beinen. Doch auch heute – selbst in der sonnenreichen Mittelmeerregion – ist Vitamin-D-Mangel weitverbreitet. Grund dafür ist unsere moderne Lebensweise: Wir verbringen den Großteil des Tages in Innenräumen, tragen Kleidung oder Sonnenschutz, die UV-B-Strahlung blockieren und meiden gezielte Sonnenexposition aus (berechtigter) Angst vor Hautschäden. Hinzu kommt, dass in den Wintermonaten auch südlich der Alpen die Sonne zu tief steht, um noch ausreichend Vitamin D in der Haut zu bilden. Ernährung allein kann das Defizit kaum ausgleichen, da nur wenige Lebensmittel, etwa fettreicher Fisch, Lebertran, Eier oder angereicherte Produkte, relevante Mengen enthalten. Besonders empfindlich sind Neugeborene: Muttermilch enthält zwar viele Schutzstoffe, aber nur sehr wenig Vitamin D. Da Babys nicht in die Sonne dürfen, wird heute standardmäßig empfohlen, ab der ersten Lebenswoche täglich 400–500 I.E. Vitamin D zu geben, um Rachitis vorzubeugen und die Knochenentwicklung zu unterstützen. Vitamine fehlen heute nicht aus Armut Heute und in unseren Breiten sind Avitaminosen, so der Oberbegriff für die völlige Unterversorgung mit einem oder mehreren Vitaminen, meist nicht der Armut geschuldet, sondern eher einer nicht gerade verantwortungsvollen Ernährung: Pizza, Chips und Energydrinks reichen nun mal nicht aus – auch so kann es schon mal zu Gelenkschmerzen oder Zahnfleischbluten kommen, eine Art "Gamer"-Skorbut. Kein Problem, könnte man meinen: Man schlendert ja im Drogeriemarkt an meterlangen Regalen mit Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminkapseln vorbei. Ideal sind einzelne Vitamine nicht, weil sie nicht im Komplex mit anderen Stoffen daher kommen, dennoch können sie einen wichtigen Stellenwert haben. Unser Körper braucht Vitamine für eine Vielzahl von Funktionen: um Energie aus der Nahrung zu ziehen, unser Immunsystem zu stärken und die Zellen vor Schäden durch freie Radikale zu schützen – hochreaktive Moleküle, die in uns durch Stoffwechselprozesse oder durch äußere Einflüsse wie UV-Strahlung, Umweltgifte oder Zigarettenrauch entstehen. Schützende Vitamine sind A (und Provitamin A), C und E. Sie können das Risiko für Arteriosklerose , bestimmte Krebsarten und andere chronische Erkrankungen senken; hochdosierte Supplemente zeigen jedoch in Studien häufig keinen Zusatznutzen und können teils schaden (z. B. erhöht β-Carotin bei Rauchern möglicherweise das Lungenkrebsrisiko). Einige Vitamine fördern die Blutgerinnung, andere ein ordentliches Blutbild, wiederum andere helfen den Nerven, Signale zu übertragen – vor allem die große Gruppe der B-Vitamine, die das Wachstum und die Spezialisierung von Zellen und Gewebe unterstützen. D3 und K2: Teamarbeit für starke Knochen Weil der Körper die meisten Vitamine nicht selbst oder nicht ausreichend herstellen kann, müssen wir sie über die Nahrung aufnehmen, um gesund zu bleiben. In Eigenproduktion stellt unser Körper z. B. Vitamin D in der Haut her (UVB-Licht). Vitamin K wird nicht immer über die Ernährung gedeckt – K1 stammt vor allem aus grünen Pflanzen (z. B. Spinat, Grünkohl), K2 u. a. aus fermentierten Lebensmitteln (z. B. Natto, gereifter Käse). Die bakterielle K2-Bildung im Dickdarm trägt nach aktueller Datenlage nur wenig zur Versorgung des ganzen Körpers bei. K2 aktiviert zwei "Kalzium-Lotsen": Osteocalcin bringt Kalzium in Knochen und Zähne, ein weiteres Protein hält Kalzium aus Gefäßen und Weichteilen heraus. Deshalb wird Vitamin D3 in der Praxis häufig mit K2 kombiniert – D3 erhöht die Verfügbarkeit von Kalzium, K2 sorgt dafür, dass es am richtigen Ort landet: rein in den Knochen, raus aus den Arterien. Für Vitamin D wird ein 25-OH-Vitamin-D-Spiegel von ca. 30–60 ng/ml empfohlen. Dieser Laborwert zeigt die Konzentration von 25-OH-Vitamin-D (auch Calcidiol genannt) im Blut an, ist also ein Indikator für die Vitamin-D-Versorgung des Körpers und lässt sich beim Hausarzt messen. Viele Erwachsene benötigen – je nach Ausgangswert, Körpergewicht, Jahreszeit und Resorption – etwa 1.000 bis 4.000 I. E. Vitamin D3 täglich (oral). Tägliche Gaben sind für stabile Spiegel meist günstiger als eine wöchentliche hohe Dosis. Hinweis: Wer Vitamin-K-Antagonisten (z. B. Marcumar/Warfarin) einnimmt, also Medikamente zur Blutverdünnung, die die Wirkung von Vitamin K in der Leber hemmen, bespricht die Einnahme von K2 bitte mit seinem Arzt. 13 Vitamine – ein eingespieltes Team Alles in allem 13 Vitamine braucht unser Körper. Vier davon sind fettlöslich – E, D, K und A – und können im Fettgewebe gespeichert werden und werden mit etwas Fett im Essen auch besser aufgenommen. Auf der anderen Seite stehen die wasserlöslichen: Vitamin C und die acht B-Vitamine B1 (Thiamin), B2 (Riboflavin), B3 (Niacin), B5 (Pantothensäure), B6 (Pyridoxin), B7 (Biotin), B9 (Folsäure) und B12 (Cobalamin). Wasserlösliche Vitamine werden kaum gespeichert (Ausnahme: Vitamin B12 wird vor allem in der Leber gespeichert – Vorräte reichen oft für Jahre; auch Folat und Vitamin C sind in begrenztem Umfang speicherbar) und müssen daher meist regelmäßig zugeführt werden. Sie alle werden benötigt, um essenzielle Körperfunktionen wie Stoffwechsel, Immunsystem, Zellregeneration und Energieproduktion am Laufen zu halten. Vitamine sind Teamplayer – fehlt nur eines, gerät das System aus dem Tritt. Einige B-Vitamine entstehen zudem in kleinen Mengen durch Darmbakterien. Ein besonderer Blick gilt Vitamin B7, auch Biotin genannt. Biotin beeinflusst die Umsetzung von Geninformationen. Fehlt es, kann es zu Hautstörungen, Muskelschmerzen , Bewegungsstörungen, Mattigkeit, Ohnmacht und sogar Depressionen kommen. Ernährungsquellen sind u. a. Hefe, Eigelb, Haferflocken , Walnüsse, Pfifferlinge , Champignons, Fisch und Spinat. Obwohl Biotin in vielen Lebensmitteln vorkommt, sehe ich in der Praxis immer wieder erniedrigte Biotin-Spiegel mit Haarverlust, "Hautpiksen" und ekzemartigen Entzündungen; unter Tabletteneinnahme bessern sich die Beschwerden rasch. Ein Apfel kann mehr als jede Kapsel Was die Aufnahme von Vitaminen über die Nahrung generell angeht, gibt es einen Klassiker: "An apple a day keeps the doctor away" (Ein Apfel pro Tag hält den Arzt fern). Der Apfel ist ein Allround-Talent. Seine Vitamine – C, Provitamin A (Betacarotin), K, E, B1, B2 und B6 – arbeiten zusammen; dazu kommen der lösliche Ballaststoff Pektin (Futter für "gute" Darmbakterien), unlösliche Fasern und Mineralstoffe wie Kalium, Calcium, Magnesium, Phosphor und Eisen. Polyphenole (sekundäre Pflanzenstoffe) wirken antiallergisch, antientzündlich und antioxidativ, schützen das Herz-Kreislauf-System, können den Fettstoffwechsel günstig beeinflussen und den Blutzucker glätten. Besonders empfehlenswert sind alte Sorten wie Boskoop, Cox Orange oder Goldparmäne. Das Zusammenspiel der natürlichen Begleitstoffe macht den Apfel wirksamer als isolierte Einzelvitamine aus Kapseln oder Infusionen. Wann Nahrungsergänzung sinnvoll ist und wann nicht Die Einnahme von Vitamin B12 als Nahrungsergänzung ist für Veganer unverzichtbar. Nahrungsergänzungen können dauerhaft unterstützen oder zeitweise gezielt eingesetzt werden. Klug und evidenzbasiert verwendet, sind sie in Prävention und Therapie in manchen Situationen nicht mehr wegzudenken. In spezifischen Fällen sind Vitamininfusionen oder -spritzen sinnvoll, z. B. bei Aufnahmestörungen, entzündlichen Darmerkrankungen, starker Schwäche nach schweren Erkrankungen oder bei ausgeprägten Mängeln. Vitamin-C-Infusionen erhöhen den Blutspiegel stärker als Tabletten; überschüssiges Vitamin C wird über die Niere ausgeschieden. Kurzfristig sind antioxidative und entzündungshemmende Effekte denkbar, die Studienlage ist jedoch uneinheitlich. Es gibt Hinweise auf Nutzen in einzelnen Situationen (z. B. nach Herzoperationen oder im Zusammenhang mit einzelnen Krebsarten/-therapien), bei Sepsis und akutem Atemnotsyndrom sind die Ergebnisse gemischt. Nebenwirkungen wie Nierensteine sind möglich. Drip-Bars, also Wellness-Einrichtungen, die intravenöse Infusionen mit hochdosierten Vitaminen, Mineralstoffen und Aminosäuren anbieten, sind kein Wellness-Trend mit Garantieeffekt. Sie gehören in ärztliche Hand und sollten nur in klaren medizinischen Fällen einen Platz haben. Wichtiger ist die regelmäßige Versorgung über Lebensmittel; Supplemente kommen bei Bedarf ergänzend dazu. Trotz gutem Essen kann ein Mangel entstehen Was und wie viel sinnvoll ist, hängt vom individuellen Nährstoffbedarf ab: Geschlecht, Alter, Essgewohnheiten, Darmflora , Genetik, Aktivität, Schwangerschaft/Stillzeit, Wachstum, Pubertät, Stress, Krankheiten, Alkohol/Nikotin sowie Medikamente spielen hinein. Wer es genau wissen will, lässt seine Werte messen. Kassenleistungen sind oft knapp; hilfreich sind funktionelle bzw. intrazelluläre Tests, die die Versorgung über Wochen bis Monate abbilden und oft aussagekräftiger als Serumwerte sind. Korrigiert man Defizite, verschwinden unspezifische Beschwerden häufig; Haut, Haare, Immunsystem, Schlaf, Verdauung und Leistungsfähigkeit profitieren. Prävention wird greifbar, und nicht selten lassen sich Medikamente einsparen. Neben Vitaminen spielen auch Spurenelemente, Mineralstoffe und Omega-3-Fettsäuren eine zentrale Rolle. Warum heute trotz "vollem Teller" häufiger Mängel auftreten: Erstens sinkt die Nährstoffdichte mancher Lebensmittel durch Züchtung auf Ertrag, Optik und Lagerfähigkeit sowie durch nährstoffarme Böden. Zweitens verringern lange Liefer- und Lagerzeiten sowie Licht, Sauerstoff und Wärme – und auch starke Verarbeitung (Schälen, Raffinieren, Erhitzen) – empfindliche Vitamine wie C, Folat und B1. Drittens enthalten ultra-verarbeitete Produkte wenig Mikronährstoffe. Viertens essen viele zu einseitig – zu wenig Pflanzenvielfalt. Darm als Schlüssel zur Vitaminverwertung Die Darmflora ist ebenfalls ein wichtiger Vitamin-Faktor: Eine schlappe Darmflora kann die Bildung kleiner Vitaminmengen im Darm reduzieren und die Schleimhaut so beeinflussen, dass die Aufnahme insgesamt schlechter läuft. Ursachen sind u. a. ballaststoffarme Kost, wenig Polyphenole (sekundäre Pflanzenstoffe, also chemische Verbindungen in pflanzlichen Lebensmitteln, die ihnen als Schutz- und Lockstoffe dienen, ihnen Farbe, Geruch und Geschmack verleihen), häufige Antibiotika, Protonenpumpenhemmer (Medikamente, die die Magensäureproduktion blockieren), Alkohol, Emulgatoren, Süßstoffe in stark verarbeiteten Lebensmitteln, zu viel Zucker und Salz, chronischer Stress, Schlafmangel sowie Darmerkrankungen oder Fehlbesiedlungen. Mehr Vielfalt an Pflanzenkost (circa 30 pro Woche), ausreichend lösliche Ballaststoffe (z. B. Pektin, Inulin, Akazienfaser) fördern die Mikrobiota, also die Gesamtheit der Mikroorganismen wie Bakterien, Viren und Pilze, die den Darm besiedeln – und damit indirekt den Vitaminstatus. Muskeln (über Muskelbotenstoffe), guter Schlaf, Fasten und weniger hochverarbeitete Produkte unterstützen zusätzlich. Bleiben Sie vitaminreich und kommen Sie gesund durch die Zeit!