Mit Franz Josef Wagner verliert der Journalismus in Deutschland seine prägnanteste Stimme. Er war der Schöpfer und unerreichte Meister der Kolumne "Post von Wagner". In diesem Format nimmt auch t-online Abschied von ihm. Lieber Franz Josef Wagner, wir haben heute in der Redaktion über Sie gesprochen. Wir wussten noch nicht, dass Sie tot sind. Es ging um das Wort "umstritten", und dass man es nicht gedankenlos benutzen soll. Dieses Wort, das so tut, als sei es neutral – und doch oft nur Ausdruck von Bequemlichkeit ist. Oder mit dem man vielleicht andere mundtot machen will. Sie waren immer "umstritten". Ihre "Post von Wagner" war so filterlos wie Ihre Gitanes. Wenn Sie Goldmädchen Franziska van Almsick als "Franzi van Speck" verhöhnten. Wenn Sie Robert Habeck "einen leeren Joghurtbecher" schimpften und den sexistischen Gassenhauer "Layla" als Poesie feierten. Überhaupt, Sie und die Frauen! Was hatten die Ihnen eigentlich getan? Geschämt haben Sie sich nie. "Schämen nützt nichts, geschrieben ist geschrieben", haben Sie mal gesagt. Wer so denkt, der umarmt die Einsamkeit. Sie waren gern allein. Zwischen sich und der Welt die dicken Wände Ihrer 240-Quadratmeter-Junggesellenwohnung in Charlottenburg. Sie schrieben, umwölkt vom Qualm Ihrer Kippen. Benebelt von Weißwein, sagen die, die Ihre Briefe hassen. Wer so viele Barrieren zwischen sich und dem Leben auftürmt, verliert leicht die Orientierung. Das ist gefährlich, wenn man seine Gedanken fährt wie einen Porsche. Sie haben auf der Überholspur geschrieben, "Lieber X", ein Dutzend steile Zeilen, "Herzlichst Ihr Franz Josef Wagner". In diesem Tempo gerät man schnell auf die Gegenfahrbahn oder in Sackgassen. Mit Ihrem "Herzlichst Ihr Franz Josef Wagner" haben Sie dann einfach die Handbremse angezogen. Mit dieser Scheinfreundlichkeit sind Sie aus Ihrer Kolumne ausgestiegen wie aus einem Auto. Und haben sich ums Wenden gedrückt, wenn Sie falsch abgebogen waren. Am nächsten Tag sind sie mit einer neuen Idee losgerast und haben die alte dort stehen lassen, wo Sie sie geparkt hatten. Viele sagen: oft im Halteverbot. In Ihren besten Briefen haben Sie etwas aufgeschrieben, was in uns gären sollte. Oft Wut, noch öfter Kopfschütteln, zuweilen ein Schmunzeln, eher nie Freude. Aber nicht zu selten einen Gedanken, den wir vorher so nicht gedacht hatten. Niemand musste ihn mögen. Das war Ihnen augenscheinlich nicht wichtig. Manchmal konnte man ihn hassen. Das ertrugen Sie gut. Vielleicht haben Sie es sogar genossen. Sie wollten treffen, was die Menschen fühlen und denken, haben Sie mal gesagt. Und dass ein Text ein Gefühl transportieren muss. Das ist oft gelungen. Es gibt ja viele Gefühle, zum Glück für Sie. Deshalb sind Sie überhaupt "umstritten". Deshalb waren Sie nie egal. Ohne diese Gabe wären Sie ein Bulldozer, ein Zeilen-Hooligan, ein quarzendes Ärgernis. Mit diesem Geschenk wurden Sie der "Gossen-Goethe", als der Sie nun gestorben sind. "Gossen-Goethe". Wie viel umstrittener kann man sein als einer, den man so nennt? Sogar Ihr Spitzname war Beleidigung und Kompliment zugleich. Es bleibt für immer rätselhaft, warum Sie so schrieben, wie Sie schrieben. So ungebremst, so rasend, so kreuz und quer. Wie ein Tiger, sagten Sie mal. Dieses Rätsel nehmen Sie heute mit, und wir bekommen morgen keinen Brief von Ihnen. Herzlichst, Ihr Philipp Michaelis